Es war der Schritt von Big zu Bigger Data, als Netflix im Januar sein Spielfeld von 60 auf 190 Länder ausgeweitet hat. Ohnehin ist der kalifornische Streaming-Service für eine zuvor im TV-Geschäft ungekannte Konsequenz seiner Datenintelligenz berüchtigt. Mittlerweile gehört es zum Allgemeingut, dass das Risiko, 100 Millionen Dollar in "House of Cards" zu investieren, zwar nicht ganz klein war – aber eben auch nicht wagemutig, weil die Netflix-Algorithmen zuverlässig einen erhöhten Nutzerbedarf an der Kombi 'Politik, Thriller, Kevin Spacey und David Fincher' erkannt hatten.

Mit der globalen Expansion ist das Datenaufkommen nun förmlich explodiert. Und doch bleibt Neil Hunt, Brite mit Hang zum trockenen Humor und Chief Product Officer von Netflix, die Ruhe in Person. "Aus technischer Sicht war der Extraaufwand gar nicht so groß, wie man auf den ersten Blick denken könnte", so Hunt zum Medienmagazin DWDL.de. "Wir haben inzwischen ja eine gewisse Launch-Erfahrung, und die Weiterentwicklung unserer Algorithmen ist sowieso im ständigen Fluss. Sie hört niemals auf."

 

Über "Open Connect", das Netflix-eigene Content Delivery Network (CDN), werden weltweit mehr als 125 Millionen Wiedergabestunden pro Tag ausgespielt. In Spitzenzeiten sind zweistellige Terrabyte-Werte pro Sekunde zu bewältigen. Neben der technischen Zuverlässigkeit musste vor allem das Empfehlungssystem an das größere Spielfeld angepasst werden. Laut Netflix zeigte sich dabei, dass Zuschauer auf verschiedenen Kontinenten mehr gemeinsam haben, als sie möglicherweise denken.

"Eine Methode, wie Netflix personalisierte Empfehlungen für einzelne Mitglieder erstellt, hat etwa damit zu tun, Nutzergemeinschaften zu identifizieren, die ähnliche Filme und Serien mögen, und dann Empfehlungen zu erstellen, die darauf beruhen, was in diesen Gemeinschaften beliebt ist", erklärt Carlos Gomez-Uribe, Vice President Personalization Algorithms. "Statt die Nutzer nur auf Basis eines Landes und eines Katalogs zu betrachten, findet unser globales Empfehlungssystem weltweit jene Nutzergemeinschaften, die für das einzelne Mitglied aufgrund des eigenen Geschmacks und der eigenen Vorlieben am relevantesten sind, und verwendet die daraus gewonnenen Erkenntnisse dafür, jedem Mitglied die besten Titel zu empfehlen, unabhängig davon, wo er oder sie lebt."

Ein wichtiger Big-Data-Vorteil, den Netflix mit dieser Methode erzielt, ist die Verkürzung der Zeitspanne, die es braucht, ehe in einem neuen Markt genügend verlässliche Nutzungsdaten vorliegen. Beim Start in Deutschland im Herbst 2014 musste der SVoD-Anbieter noch darauf hinweisen, dass die Empfehlungen erst mit wachsender lokaler Nutzung immer besser werden können. Als Beispiel für eine grenzüberschreitende Gemeinschaft mit ausgefallenem Interesse zieht der Algorithmen-Beauftragte gern die Anime-Community heran. In absoluten Zahlen leben die meisten dieser Nutzer unter den Netflix-Abonnenten in Japan – allerdings kommen über 90 Prozent der Gemeinschaft aus anderen Ländern. "In diesem Fall ist es wirklich sinnvoll, die Daten aller relevanten Nutzer in allen Ländern zusammenzufassen", so Gomez-Uribe.

Auf vergleichsweise simple soziodemografische Daten wie Alter oder Geschlecht legt Netflix nach wie vor keinen Wert. Traditionelle TV-Einschaltquoten, die Marktforscher wie GfK oder Nielsen in Panels messen und dann hochrechnen, verhalten sich zur Datenintelligenz der großen VoD-Plattformen in etwa so wie der Hobbyschnorchler zum Extremtaucher: Sie bleiben an der Oberfläche. Ranghohe Vertreter von Amazon spotten gern mal über diese Kurzsichtigkeit der alten TV-Welt, auch wenn sie sich selbst natürlich nicht allzu tief in die Algorithmus-Karten gucken lassen. Der Online-Händler kann aus seinem Kerngeschäft auf eine noch viel größere Vielfalt von Konsumdaten zugreifen als Netflix. Wenn sich etwa die Bücher von US-Krimiautor Michael Connelly besonders gut verkaufen, kann Amazon relativ risikofrei ausrechnen, welches Nutzerpotenzial dessen "Bosch"-Reihe als TV-Serie bei Amazon Prime erzielen würde. Mit Erfolg: Gerade wurde Staffel drei beauftragt.

"Die Weiterentwicklung unserer Algorithmen ist im ständigen Fluss. Sie hört niemals auf"

Neil Hunt, Chief Product Officer, Netflix


Wenn Amazon Studios Serien wie "Bosch", "Transparent" oder "Mozart in the Jungle" pilotiert und damit – anders als Netflix – einen klassischen Brauch der TV-Industrie übernimmt, kann man angewandtes Big Data vom Feinsten erleben. Wie viele Nutzer welchen Piloten abrufen, ist dabei noch die unwichtigste Messgröße. Sekundengenau weiß Amazon, welche Kundentypologien bei welcher Wendung aussteigen. Das Ganze wird mit den Unmengen von quantitativen Bewertungen und qualitativem Feedback bei Amazon Prime sowie dem Schwesterportal IMDb gematcht. Im Vergleich dazu stochern TV-Sender mit ihrem üblichen Arsenal an Testvorführungen und qualitativer Marktforschung eher im Nebel. Aus Sicht von Produzenten und Kreativen ist bemerkenswert, dass aus der Datenfülle bei Amazon und Netflix nicht etwa mehr, sondern deutlich weniger Gängelung folgt. Wenn sich die Streaming-Dienste der generellen Rahmendaten erstmal sicher sind, lassen sie die Serienmacher ohne große Einmischung ihre Serien machen.

Mehr und mehr wollen auch lineare TV-Anbieter die Analytik für sich nutzen, die digitales Videostreaming bietet. In Europa zählt der Pay-TV-Konzern Sky seit Jahren zur Speerspitze der technischen Fortentwicklung. Neben den hauseigenen VoD-Produkten sind auch Beteiligungen an spezialisierten Plattformen und Dienstleistern Teil der Strategie. So hat Sky in das US-Start-up Pluto.TV investiert, das eine OTT-Plattform mit über 100 Kanälen für klassische TV- und Online-Video-Inhalte betreibt. Sky UK lässt sich von Pluto.TV Video-Playlists für seine Premium-Plattform SkyQ kuratieren, der von rund 20 verschiedenen Multichannel Networks stammt. "Die Daten, die wir daraus gewinnen, lassen uns verstehen, wie Shortform-Content das Leanback-Sofa-Erlebnis unserer Kunden bereichern kann", sagt Emma Lloyd, Director of Corporate Business Development bei Sky in London.

Der steigende Stellenwert von Big Data macht freilich nicht bei Programm-, Produktions- oder Distributionsentscheidungen Halt. Er schlägt sich zunehmend auf die gesamte Broadcasting-Kette nieder. Und das setzt ganz simpel erstmal eines voraus: "Um komplexe Datenmengen verwalten und nutzen zu können, bedarf es zunächst umfassender Serverkapazitäten", erklärt Robert Zeithammel, Head of Key Accounts Platforms & Telcos bei Plazamedia. Einzelne Inhalte-Anbieter sind damit womöglich überfordert, Plazamedia aber hält beispielsweise die gewaltige Kapazität von 4,6 Petabyte vor, worauf man fast 25 Jahre digitalen Bewegtbild-Content unterbringen kann.

Mittels eines Webinterfaces können Kunden jederzeit über die dort abgelegten Inhalte verfügen, dank einer Metadatenstruktur wird dabei die Recherche und ein effektives Content-/Rechtemanagement sichergestellt. Plazamedia kümmert sich zudem auch darum, dass Schnittstellen zu allen wichtigen Plattformen und Player im Netz funktionieren und die Inhalte verbreitet werden können. "Diese komplexen Adaptionen der jeweiligen Anforderungen wären für die einzelnen Inhalteanbieter alleine meist nur mit einem unverhältnismäßig hohen Aufwand in Bereich Technik und personeller Ressourcen lösbar", so Zeithammel, der mit Plazamedia das Ausspielen von 35.000 Stunden Content im Jahr für unterschiedlichste Senderkunden managt.

Doch auch ein mittelständisches Unternehmen aus Halle an der Saale mischt im Big-Data-Geschäft mit: HMS Media Solutions hat sich als Anbieter von Sendeabwicklungs- und Playout-Lösungen etabliert, betreibt international rund 1.000 Kanäle für 250 Kunden. Seinen Schwerpunkt legt Gründer und Geschäftsführer Frank Mistol auf Sendeautomation, die den kompletten Workflow eines Senders vom Ingest bis zur Distribution abdeckt.

Zur NAB Show, der weltgrößten Fachmesse für TV-Technik, reist Mistol vom 16. bis 21. April nach Las Vegas, um dort vorzuführen, was er "vernetztes Denken auf einem neuen Level" nennt. Aussteller HMS wird mit "Ad-Flow" und "Clipbox" zwei Produkte zeigen, die TV-Sender jeder Größe in die Lage versetzen sollen, Techniken wie Adressable TV oder Local Ad Insertion einzusetzen und mit ihren Nutzern effizient in Verbindung zu treten. Das hilft bei der zielgerichteten Auslieferung von Programminhalten genauso wie bei der möglichst individuellen Werbeansprache.

Gemeinsam mit verschiedenen Partnern hat HMS zudem technische Lösungen entwickelt, die an die Sendeautomation angedockt werden können. Dazu gehört unter anderem das Angebot von joiz Global, einer Schwester des gleichnamigen interaktiven Jugendkanals. Sie liefert VoD-Plattformen mit eingebauten Community-Marketing-Lösungen, die Publikumsinteraktion in Verhaltensdaten umwandeln – den wohl wichtigsten Rohstoff für modernes Marketing. Nicht nur in diesem Fall dürfte die Werbeindustrie dafür sorgen, dass bald kein Broadcaster mehr um Big Data herumkommt.