Anfang der Neunziger gab es die Sendung „Mitternachtsstrip“. RTL zahlte Menschen tausend Mark dafür, dass sie sich beim Ausziehen filmten und die so entstandenen Clips dem Sender zur Ausstrahlung überließen. Das war sehr unterhaltsam, weil sich natürlich vornehmlich jene auszogen, die das besser mal bleiben gelassen hätten. Das war indes auch lehrreich, weil man so auch in den Zeiten vor Youtube einen wunderbaren Einblick in deutsche Wohnzimmer bekam. Gefühlte 90 Prozent der Stripper erledigten ihre Entblößung nämlich vor der heimischen Schrankwand. Mein Tipp an Archäologen. Grabt diese Videos aus, und ihr wisst alles über die bürgerliche Wohnkultur der frühen Neunziger.

Wer heute Menschen beim Entblößen zuschauen will, muss nicht mehr RTL gucken. Ein Blick ins Netz reicht. Mit zwei, drei Klicks ist man dort, wo die große Erregung wohnt, bei den Verbalpornos der Neuzeit, dort, wo gesellschaftliche Teilnahme simuliert wird, wo das Zweithandleben so tut, als sei es das erste. Genau, wir sind in den Petitions- und Kommentarspalten, wo sich ein jeder für ein paar Klicks das Gefühl abholen kann, er habe etwas zu einem Thema zu sagen und seine Klicks und Kommentare seien wichtiger als das Thema selbst.

Wer seinen Klick gegen Lanz setzt oder sich in einem Kommentar darüber echauffiert, dass Julia Engelmann für ihr kleines Slamgedicht mit unglaublich vielen Empfehlungen von geistig offenbar auf Poesiealbumniveau verbliebenen Nutzern belohnt wird, der hat das Gefühl der Teilhabe. Und genau darum geht es, um den Drang zur Teilhabe.

Das ist nicht weiter schlimm, denn Teilhabe ist Demokratie. Teilhabe war übrigens auch die vergangene Bundestagswahl, bei der sich die Mehrheit dafür entschieden hat, sich eher nicht zu entscheiden und den Stillstand in der Republik zu zementieren. Teilhabe ist trotzdem wichtig. Teilhabe kriegt allerdings einen faden Beigeschmack, wenn sie in den kreativen Bereich wuchert. Kunst ist niemals demokratisch. Kunst ist immer das Werk eines Individuums, das sich durch die Tat erhebt über die Einfallslosen. Und in gewisser Weise ist auch Fernsehen Kunst. Nun bin ich weit davon entfernt, alle, die Lanz oder Engelmann nicht mögen, als einfallslos zu deklassieren. Ich habe nur etwas gegen diese Freiheitskämpferattitüde, die so tut, als stünde man mit einem Klick gegen Lanz quasi auf den Barrikaden von Kiew.

Das riecht vielmehr nach dem fauligen Atem eines billigen Medienmobs, der sich aufschwingt, sein Besserwissen als Maßstab zu etablieren. Das hat vor allem zu tun, mit der Lust, die eigene Macht mal auszutesten. Aus genau dem Grund beißen kleine Jungs Fröschen den Kopf ab, schlucken Regenwürmer und klemmen der Katze den Schwanz in der Wohnzimmertür ein. Weil sie es können, und weil es in ihnen das kurze Gefühl der Omnipotenz, des übergroßen Ichs wachruft.

Wir leben nunmal im Zeitalter der digitalen Egomanie, der beschwipsten Selfies. Nicht mehr das Kunstwerk ist wichtig, sondern wie ich mich auf dem Foto davor mache. Wer ist die Mona Lisa, wenn ich auf dem Bild vertreten bin? Und wer oder was ist schon Markus Lanz, wenn doch meine Petition in die hohe Sechsstelligkeit drängt? Zu spüren ist die Selbstbesoffenheit der Klicker und Kommentatoren, deren Lanz-Hysterie in Wahrheit nur ein weiteres Auslassventil für die Unzufriedenheit mit dem System des Rundfunkbeitrags darstellt. Wenn man das System nicht kriegen kann, weil halt die Mehrheit bei Wahlen immer jene ankreuzt, die nichts verändern wollen, dann richtet man halt seine Vertreter hin. Das belebt die Lustverweigerer. Sie erleben Resonanz. Sie werden gehört.

Sie erleben das auch, weil neben ihnen mediale Exekuteure stehen. Die erheben noch den abstrusesten Facebook-Kommentar zum Anlass der Berichterstattung und freuen sich über jedes zart aufflammende Netzfeuerchen. Doch das ist ihnen nicht genug. Nein, sie haben immer noch ein Beutelchen mit Benzin dabei. Das gießen sie mehr oder minder heimlich in die Flammen und berichten hernach, wie hoch das alles loderte.

Darf man überhaupt eine Petition gegen einen Menschen ins Leben rufen? Das fragt jemand und verkennt, dass es nicht um den Menschen Lanz geht. Der Mensch Lanz steht nicht zur Debatte. Es ist die Bühnenfigur Lanz, um die es geht, nicht der Mensch. Wer den Menschen und die Bühnenfigur für identisch hält, der spricht auch Götz George als Schimanski an. Der verkennt auch die suggestive Kraft des Mediums, die sich gerade im Dschungelcamp prima demonstrieren lässt. Dort ist zu sehen, wie sich der Massengeschmack mit ein paar simplen Regietricks wenden lässt. Aus der Nervensäge Larissa wird gerade eine Art Jeanne d’Arc geformt. Warum wohl schreitet niemand gegen diese ganz offensichtliche Willkür ein? Weil sie die hohe Kunst des Fernsehens darstellt. Das Spiel mit der Realität ist Aufgabe des Mediums, wenn es unterhalten will. Ob das gut oder schlecht ist, müssen jene entscheiden, die einschalten und nicht die Kommentatoren und Petitionsklicker, die sich im Besitz einer höheren Einsicht wähnen und daher mehr Mitbestimmung fordern.

Ein Publikumsrat wird ja schon länger gefordert. Einen Publikumsrat gibt es aber. Er heißt Fernsehrat oder Rundfunkrat und hätte schon jetzt alle Möglichkeiten der Intervention zur Hand. Er nutzt sie nur nicht. Glaubt also irgendwer, ein neuer Publikumsrat würde jenseits einer hyperaktiven Anfangseuphorie irgendetwas ändern? Ist die Bild-Zeitung besser geworden, seit sie einen Leserrat hat? Würde eine Petition gegen Petitionen etwas nützen?

Wohl kaum. Deshalb ergeht an alle Wohnzimmer-Echauffierer mein guter Rat. Zeigt nicht jedem eure mentale Schrankwand! Lernt auszuhalten! Lernt zu gönnen! Entregt euch!