Als Kritiker vom Dienst muss man sich ja häufiger fragen lassen, warum man so missmutig ist, warum einem so gar nichts gefällt, warum man alles niedermacht. Alles? Stimmt nicht. Meistens gibt es auch bei gestandenen Kritikern so etwas wie eine Drittelregelung. Ein Drittel finden sie gut, ein Drittel schlecht, und der Rest ist ihnen eher egal, weil er so zwischen den Bewertungsextremen pendelt. Von der Öffentlichkeit registriert wird indes nur der Verriss. Lobeshymnen verblassen ebenso rasch wie Sowohl-als-auch-Erwägungen. In Erinnerung bleibt der Verriss, das Todesurteil über einen Film. Das lesen die Leute.

Warum aber verreißen Kritiker Filme, die von vielen anderen Menschen gemocht werden? Alle freuen sich über den neuen „Tatort“, nur der Kritiker hat wieder was zu mäkeln. Das liegt vor allem daran, dass der Kritiker anders schaut als der Normalseher. Vielleicht hilft es, sich mal selbst beim Fernsehen zu analysieren. Was tut man da? Redet man nebenbei mit den Liebsten, daddelt man auf dem Second Screen oder gar auf dem Third Screen? Schaut man den Film auf dem raumfüllenden Flatscreen oder doch eher auf dem niedlichen Notebook? Von den Antworten hängt ab, wie man einen Film aufnimmt, denn man kann so vieles machen während man schaut. Unbestritten dürfte indes sein, dass jede Nebentätigkeit die Aufmerksamkeit vom Gezeigten abzieht. Das macht es leichter, einen Film positiv zu bewerten. Man übersieht halt die kleinen Schludrigkeiten, entschuldigt die mangelnde Spannung oder schlechtes Spiel der Schausteller.

Anders der Kritiker, der im Idealfall konzentriert vor der Glotze hockt, der keine Minute verpasst, der alles sieht. Kein kleiner Fehler entgeht ihm. Und wenn dann noch ein kleiner Fehler hinzukommt und dann noch einer, dann staut sich Missmut in ihm, dann läuft der Film auf eine Abwertung zu. So einfach ist das. Weil der Kritiker weniger nebenbei macht, sieht er mehr als derjenige, der sich ablenken lässt und Fernsehen nur noch als Nebenbeimedium akzeptiert.

Wer nicht nur nebenbei schaut, kriegt leichter schlechte Laune. Dazu kommt, dass Kritiker oft alles sehen müssen. Jeden Sonntag „Tatort“ schauen, ohne abschalten zu dürfen, ist etwas anderes als die freie Entscheidung, einzuschalten und sich bei Nichtgefallen auch wieder zurückziehen zu können. Der Kritiker kann sich nicht zurückziehen. Er muss schauen. Bis zur letzten bitteren Minute.

Natürlich sind da auch Auswüchse zu registrieren. Kritiker müssen alles sehen und sind daher oft überfüttert. Sie freuen sich daher ungemein, wenn irgendetwas im Mainstream nicht nach Mainstream aussieht. Sie haben Spaß an Experimenten, weil die ihr manchmal tristes Tun für kurze Momente aufhellen. Das erklärt dann bei manch skurriler Wendung die Begeisterung, die einem Normalzuschauer verschlossen bleibt, weil der nur denkt: Häh?

Es ist von außen betrachtet kein wirklich schönes Leben, das man als Kritiker führt. „Wie soll jemand nach Rosen duften, der immer nur in Jauche badet“, hat mal ein verständnisvoller Leser geschrieben. Aber solche Aufmunterungen sind die Ausnahme. Die Regel sind Briefe an den Chefredakteur, in denen die umgehende Entlassung des Kritikers verlangt wird. Kündigungsgrund: Nachgewiesene Unfähigkeit.

Keiner mag Kritiker. Die Zuschauer glauben ihnen nicht, weil sie selber etwas anderes gesehen haben und nicht zugeben wollen, dass sie den Film nur nebenbei schauten. Die Filmschaffenden mögen die Kritiker nicht, weil sie ihre Werke nicht angemessen gewürdigt sehen. „Was mutet ihr uns eigentlich zu mit dieser Kritik“, klagen sie dann und berichten von der Mühe, die ihr Werk bei der Produktion verursacht hat. „Ich tue euch an, was ihr mir antut“, antwortet dann gerne der Kritiker. Auge um Auge, Zumutung um Zumutung.

Bleibt die Frage, ob die mediale Welt überhaupt Kritiker braucht. Man kann sich doch in den unendlichen Weiten des Netzes zu jedem Thema blitzschnell eine Meinung herausfischen. Alles da, alles zu finden. Da braucht es doch keine Kritiker mehr? Braucht es nicht, sagen die einen. Man könne auf Kritiker komplett verzichten, und die Welt würde keine schlechtere, behaupten sie.

Andere sagen, dass Kritiker vor allem bemängeln sollten, was schief läuft. Lob ist nicht so wichtig, Kritik schon. „Schlechter wird es von alleine“, lautet eine alte Feuilleton-Regel.

Komischerweise werden Kritiken am Schluss aber doch gelesen, und sei es nur, um sich an ihnen zu reiben. Es gibt da einen Drang der Menschen, zu hören, was andere meinen. Nicht unbedingt immer im direkten Gespräch, da herrscht oft der Monolog vor. Aber wenn man sich orientieren will, was man schauen soll oder wie das zu finden ist, was man gesehen hat, sind Kritiker letztlich doch hilfreich. Weil sie eine Konstante bieten.

Selbst wenn ich als Leser einen Kritiker hasse und alles falsch finde, was er schreibt, ist er im besten Fall doch ein verlässlicher Orientierungspunkt. Was Hoff doof findet, muss gut sein. Und umgekehrt. Auch so kommt man durchs Leben.

Kritiker werden auch dafür bezahlt, dass sie nicht gemocht werden. Sie bekommen kein Honorar, sie bekommen Schmerzensgeld. Schmerzensgeld für die schlechten Filme, die sie ertragen müssen, Schmerzensgeld für die Schmähungen, die auf sie einprasseln, wenn sie fertiggeschrieben haben.

Kommt die Überweisung aufs Konto freuen sie sich, denn der Kontoauszug ist letztlich der schönste Leserbrief, den ein Kritiker kriegen wird. Die Überweisung des Honorars ist für den Kritiker immer wieder ein Punkt, an dem er kurz innehält und reflektiert, was er tut. Im günstigsten Fall hat er eine gewisse Lust am Unfall. Er kann deshalb auch schlechte Filme gerne sehen. Allerdings müssen sie richtig schlecht sein, nicht nur ein bisschen wie die meisten. Und dann gibt es ja auch noch die guten Filme, die der Kritiker in den Himmel lobt, wohlwissend, dass am Schluss wieder eine bittere Erkenntnis steht: Das liest keine Sau.