Bei der Bewertung von Büchern werden Schriftsteller gerne mit einer sehr besonderen Form der Wahrheitsfindung konfrontiert. Journalisten fragen dann nach, ob das, was im Buch steht, in irgendeiner Weise als biographisch zu werten ist. Sagt der Schriftsteller nein, glaubt ihm keiner. Stattdessen wird gemutmaßt, er habe an entscheidenden Stellen schon ganz schön aus dem eigenen Erfahrungstopf gefischt. Sagt er hingegen ja, wird ihm umgehend unterstellt, er habe ordentlich übertrieben und seine eigene Geschichte ganz schön aufgehübscht. Wie man diesen Spagat unverletzt übersteht, wissen nur ganz ausgefuchste Schreiber. Sie spielen dann sehr kunstvoll mit der öffentlichen Erwartung, dass die Fiktion immer mit der Realität verbandelt sein sollte.

Nicht ohne Grund gehört bei Schauspieler-Interviews eine Frage zum Standardrepertoire unbegabter Journalisten. „Wieviel von der im Film dargestellten Figur steckt in Ihnen persönlich?“, lautet sie und ist natürlich eine glatte Beleidigung des Mimen, weil dem nicht zugetraut wird, eine komplett außerhalb seiner Persönlichkeit residierende Rolle glaubhaft auszufüllen.

Die dritte Variante dieses verzweifelten Versuchs, das Reale auf Teufel komm raus mit dem Fiktionalen zu verquicken, liefern derzeit Seiten, die sich mit Fernsehen beschäftigen. Angelehnt an den „Hart aber fair“-Faktencheck scannen sie Fernsehspiele und sagen hinterher, dass da schon ein Körnchen Wahrheit drin steckte, dass aber mit diesen und jenen Fakten schludrig umgegangen wurde, dass es sich also so, wie es dargestellt wurde, niemals zugetragen haben könne. Wow, was für eine Erkenntnis.

„Wieviel Wahrheit steckt im ZDF-Drama?“ Das wollte kürzlich erst ein großes Dumpfblatt wissen. Da hatte das Zweite Axel Milberg als Hexenjäger auf den Sender geschickt. Auch die FAZ macht sich montags regelmäßig um die „Tatortsicherung“ verdient. Da wird dann dem Film vom Vorabend nachgewiesen, dass dieses und jenes falsch oder zumindest übertrieben dargestellt wurde. Dazu werden so genannte Experten herangekarrt, die umso brauchbarer sind, je mehr sie das Gerüst des Films dekonstruieren. Am Ende fast jedes Beitrags könnte dann als Fazit eine derzeit bei Dumpfbacken aller Art beliebte Formulierung in ihrer genretypischen Abwandlung stehen: Lügenfilm.

Woher kommt dieser ungeheure Drang, Filmen mit Mitteln des Realitätschecks auf die Pelle rücken zu wollen? Ist es das pure Schielen auf die Quote? Für ein paar Klicks mehr? Ja, da tun manche Onlineredakteure alles. Und nachher kommt dann heraus, dass man mit einem Schlauchboot, das man in der Luft aufbläst, gar nicht sicher den Sturz aus einem Flugzeug abfangen kann, dass man erst recht nicht in der Lage ist, damit sicher auf einem Gletscher zu landen. Also alles gelogen bei „Indiana Jones und der Tempel des Todes“?

Ich fürchte, bei der Schwemme der nachträglichen Faktenchecks kommen wir noch zu ganz anderen Erkenntnissen. Irgendein Online-Redakteur wird noch herausfinden, dass Leonardo DiCaprio und Kate Winslet niemals wirklich auf der Titanic waren und dass man im Eiswasser gar nicht so lange überleben kann wie es die von Leo gespielte Figur tat. Und, Potztausend, möglicherweise kommt in diesem Jahr noch heraus, dass der Ausflug von Marty McFly ins Jahr 2015 nur eine Erfindung von Drehbuchautoren war, die 1985 ihren Film „Zurück in die Zukunft“ möglichst glaubhaft gestalten wollten.

Ich glaube, dass das Motiv vieler dieser Artikel auch in der persönlichen Scham liegt. Es ist jene Scham, die ausgelöst wird von fein konstruierten Filmen, die den Zuschauer in ihren Bann ziehen und ihn vergessen lassen, wo er ist. Wenn er dann hinterher beim Abspann wieder zurückkehrt in seine triste Realität, ist ihm seine eigene Verführbarkeit ein bisschen peinlich. Also greift er zum Faktencheck und zerlegt die Struktur des eben Gesehenen.

Dabei ist doch genau das der Sinn von Filmen. Den Menschen für eine kurze Zeit das Unwahrscheinliche wahrscheinlich erscheinen zu lassen, sie einzulullen, sie zu faszinieren mit Illusion. Diese Illusion muss nicht für die Ewigkeit sein. Sie muss exakt so lange wirken wie der Film dauert, sie wird getragen von innerer, nicht von objektiver Logik. Wenn ich es während des Zuschauens nicht anzweifle, dass man mit einem Schlauchboot heil aus einem Flugzeug abspringen kann, ist das in Ordnung. Dann haben es die Filmemacher geschafft, meine für kritisches Nachfragen zuständigen Synapsen kurzfristig zu kappen. Dann haben sie erreicht, was sie erreichen wollen. Sie haben mich in eine Welt versetzt, in der ich Unmögliches für möglich halte. Ein Film ist ein Film ist ein Film.

Nachträgliches Auflisten von Fehlern ist etwas für Menschen, in deren Keramik sich regelmäßig Korinthen finden. Hinterher weiß man immer mehr. Aber will ich unbedingt immer mehr wissen? Muss es unbedingt immer noch eine Portion extra sein? Ein wenig erinnert mich das an Typen, die eine grandiose Party verlassen in der Hoffnung, eine andere Party sei noch grandioser. Dort angekommen stellen sie dann fest, dass ihre Hoffnung vergeblich war. Also kehren sie zurück auf die erste Party und stellen fest, dass diese ihren Zauber verloren hat. Den hat sie aber nur verloren, weil jene, die für Stimmung gesorgt haben, weggegangen sind, in der Hoffnung auf eine bessere Party.

Was ich sagen will: Man kann viel dafür tun, nie zufrieden zu werden. Sich begnügen mit dem, was man geboten bekommt, kann einen sehr besonderen Zauber entfalten. Den Zauber der Hingabe. So etwas hat ab und an auch das deutsche Fernsehen verdient. Und ja, dieser Text ist autobiographisch geprägt.