Manchmal geschehen Wunder. Sie melden sich nicht an, sie sind einfach da. Auf einmal stand kürzlich in dem für Pressevertreter eingerichteten Vorführraum des ZDF ein Bildchen, das eine Frau und einen Mann zeigt. Sie schauen aufs Meer. An einer Steilküste. In ihre Gesichter ist Ratlosigkeit eingebrannt. Sie sehen englisch aus. Sie stehen für eine englische Serie. Für eine? Für die englische Serie.

Wieder solch eine britische Krimiserie mit klugem Kommissar und lernwilligem Sidekick? Nein: Broadchurch. Jene achtteilige Serie, die 2013 schon das englische Fernsehprogramm durchschüttelte. Danach wanderte sie durch diverse Hände. Die Amerikaner haben die Geschichte gekauft und unter dem Titel „Gracepoint“ mit demselben Autor, demselben Regisseur und demselben Hauptdarsteller verfilmt (ab Mai bei Sky). In England ging das Original schon in die zweite Staffel. Beide Nachzieher konnten nur mäßigen Erfolg ranschaffen.

ProSiebenSat.1 hielt lange die Rechte am Original-„Broadchurch“, fand aber ewig keinen Sendeplatz. Nun ist die Serie beim ZDF gelandet, das an vier Sonntagen jeweils zwei Folgen am Stück sendet. Immer um 22 Uhr.

Spätestens an diesem Punkt sei eine Warnung ausgegeben. Wer sich an diesem Sonntag auf die ersten beiden Folgen einlässt, kommt von der Sache nicht mehr los, der ist die nächsten drei Sonntage für alles andere unbrauchbar. „Broadchurch“ ist ein innerer Straßenfeger. Nach dem Abspann ist da vor der nächsten Folge. Sechs Folgen habe ich am Stück geschaut, bevor mir auffiel, dass das letzte Doppelpack im ZDF-Vorführraum fehlte.

Ich fragte nach beim ZDF und erhielt die Antwort, dass man das so halte, damit niemand die Auflösung verrate. Ich argumentierte dann, dass ich unmöglich eine Serie vorab besprechen könne, deren Ende ich nicht kenne. Zudem sei ohne Probleme im Netz zu recherchieren, wer in „Broadchurch“ was getan hat. Das ZDF hat mir dann, ich vermute zähneknirschend, einen Exklusivzugang eingerichtet. Ich war erlöst. Und erleichtert, weil es sich die Serie nicht leichtmacht mit der Auflösung, weil sie ihr Niveau hält. Bis zur letzten Minute.

Der eigentliche Fall, um den es 360 Minuten lang geht, ist einfach. Ein Elfjähriger wird tot am Strand gefunden, und der ziemlich abgerissen wirkende Chief Inspector Alec Hardy wird der eigentlich zur Beförderung anstehenden Polizistin Ellie Miller vor die Nase gesetzt. Er kommt von außerhalb, sie wohnt im Ort. Wider Willen ermitteln sie gemeinsam und stoßen auf ein finsteres Geflecht von Heimlichkeiten und Vertuschung, von Schuld und Beschuldigung, von falscher Freundschaft und Verrat. Auf besondere Weise erscheint fast jeder im Ort verdächtig.

Das klingt erst einmal wie Nullachtfuffzehn-Krimiware. Tausendmal gesehen. Tausendmal kopiert. Erst im Februar lief im ZDF sehr erfolgreich der Zweiteiler „Tod eines Mädchens“. Über acht Millionen interessierten sich für die Auflösung des Falles, bei dem eine 14-Jährige tot am Strand gefunden wird, bei dem die Dorfkommissarin (Barbara Auer) einen von außerhalb (Heino Ferch) vor die Nase gesetzt bekommt, bei dem fast jeder ein dunkles Geheimnis mit sich trägt.

Das war, obwohl sehr, sehr deutlich abgekupfert, nicht schlecht gemacht, aber am Ende eben doch nur ein weiterer Film mit Barbara Auer und Heino Ferch. Kein Vergleich mit „Broadchurch“.

Das liegt vor allem am von Chris Chibnall und Louise Fox geschriebenen Buch, das die Geschichte als großes Netz auslegt, in dem sich die Spannung immer wieder mal verheddern kann. Sorgfältig und liebevoll werden die einzelnen Figuren hier eingeführt und beschrieben. Behutsam kann sich der Zuschauer diesem Geflecht nähern und ist doch stets auf der Höhe der Handlung. Die Autoren wägen ihn lange in der Sicherheit des Wissenden, bis sie ihm dann irgendwann genau diese Basis entziehen und frischen Verdacht säen. Das ist so geschickt verwoben, dass man sich im Beziehungsdickicht von Broadchurch bald besser auszukennen meint als die handelnden Personen.

So wie diese Geschichte gestrickt ist, kann man davon ausgehen, dass die Autoren große Schachspieler sind. Sie haben nicht nur den nächsten und den übernächsten Zug im Blick, sie wissen schon bei der allerersten Bewegung einer Figur, wo sie kurz vor dem Schachmatt stehen soll. Das ist ganz große Fernsehkunst.

Dem stehen die Regisseure James Strong und Euros Lyn in nichts nach. Sie kreieren eine ungeheure Dichte, sie spielen fein mit Kontrasten, sie wägen wohl, wo welcher Schwerpunkt den Fortgang belasten darf und wo sie für Erleichterung sorgen müssen. Das entwickelt eine schier wahnwitzige Dynamik, die den Zuschauer einsaugt und nicht mehr loslässt.

Bis auf ein oder zwei leichte Überzeichnungen von Figuren haben sie auch das Schauspielerensemble fest im Griff. Allen voran agieren David Tennant als verstrahlter Chief Inspector Alec Hardy und Olivia Colman als ortskundige Polizistin Ellie Miller mit einer ungeheuren Präzision. In keiner Szene spielen sie sich mehr in den Vordergrund als der Sache dienlich wäre. Sie wissen zu jeder Sekunde, dass der Reiz nicht allein in ihrem Spiel, sondern in der Gesamtkomposition liegt. So etwas möchte man nehmen und der gesammelten Riege der deutschen Vorzeigeschauspieler vorhalten. Vielleicht würden die dann mal lernen, dass ein Film nicht ihnen zu dienen hat sondern sie dem Film.

Ich könnte noch endlos Zeilen schinden, um von dieser Serie zu schwärmen, aber ich denke, es ist an der Zeit, zu schauen. Das Fernsehereignis des bisherigen Jahres steht an. Wecker stellen. „Tatort“ verpassen. Um 22 Uhr ZDF einschalten. Nicht mehr loskommen. Warnhinweis: „Broadchurch“ kann abhängig machen.