Ich bin ein linearer Typ. Ich schaue für mein Leben gern, was mir die Sender anbieten just in dem Moment, in dem ich mein Empfangsgerät anschalte. Mir ist das gerade nochmal bewusst geworden, weil ich gelesen habe, dass ich nicht allein bin, dass in meiner Altersgruppe, also bei den Menschen zwischen 50 und 64, im vergangenen Jahr die lineare Fernsehnutzung gegen den Trend gestiegen ist. Glatte 297 Minuten schauten ältere Zuschauer in die Röhre. Das sind fast fünf Stunden, die Menschen meines Jahrgangs vor der Glotze hängen. Das ist echt viel Holz. Selbst ich als professioneller Glotzer komme selten über drei Stunden. Da frage ich mich natürlich schon, wer meine zusätzlichen zwei Stunden, die mir zur Erfüllung des Senioren-Durchschnittssolls fehlen, für mich wegschaut.

Noch schlimmer sehen die Perspektiven für mich aus. In zwei Jahren bin ich 65, dann rutsche ich eine Gruppe hoch. Dann muss ich pro Tag 335 Minuten schauen. Dann bin ich mit meinen maximal 180 Minuten glatte 155 Minuten im Minus.

Die Sender, besonders das ZDF und die Dritten, die sich ja mit ihren immer häufiger anspruchsverweigernden Programmen zunehmend als Hospiz für aussterbende Zuschauerschichten empfehlen, könnten sich also beruhigt zurücklehnen und die Statistik genießen, wären da nicht die jungen Leute, denen das lineare Fernsehen in immer größerem Umfang an rückwärtigen Körperteilen vorbeigeht, weil sie eben abrufen, was ihnen gerade passt. Die Fernsehnation spaltet sich weiter in Abrufer und lineare Gucker.

Ich appelliere daher an die Sender, mich in Zukunft etwas besser zu behandeln und meinen Intellekt nicht durchgehend zu beleidigen. Ich bin eure Zukunft. Vergesst die Jungspunde, setzt auf alte Säcke wie mich. Ich bin die lineare Zukunft. Zumindest in den nächsten 25 Jahren.

Ich entscheide mich halt immer noch gerne spontan. Ich will mich vom Gebotenen einfangen lassen. Es gilt beim Zappen der freie Wettbewerb, die Frage ans gerade eingeschaltete Programm: Fängst du mich schnell ein, oder fängst du mich nicht ein? Im letzteren Fall bin ich halt weg und schippere auf dem nächsten Kanal herum. Treue ist nicht so mein Ding, Unverbindlichkeit eher.

Ich will zumindest an manchen Tagen bedient werden. Mir soll man etwas Attraktives auftischen. Ich will nicht erst ewig in irgendwelchen unübersichtlichen Mediatheken herumsuchen, bis ich etwas gefunden habe, das etwas für mich sein könnte. Aus demselben Grund meide ich Restaurants mit Salatbüffet. Was soll das? Ich dackele doch nicht mit meinem Tellerchen durch den ganzen Laden, um genau die Arbeit zu verrichten, die normalerweise das Küchenpersonal erledigt. Ich will erstens keine Arbeitsplätze vernichten, zweitens möchte ich nicht von etwas essen, wo andere Kunden vorher draufgesabbert haben (Feinrotzpartikel), und drittens frage ich, wo das hinführen soll. Marschiere ich demnächst selbst in die Küche und haue mein Steak eigenhändig in die Pfanne? Ich fürchte, es wird bald so kommen. Irgendeiner wird das zum Trend ausrufen, und alle hippen Magazine werden es propagieren als den neuen geilen heißen Scheiß.

Nein, ich will bedient werden, ich will meine Fernsehware just in time angeliefert bekommen. Das hat natürlich viel mit meiner Sozialisation zu tun. Ich wurde in den Sechzigern groß oder sagen wir mal halbstark. Ich fieberte in einer vom Nachkriegsmuff grau gefärbten Welt eine ganze Woche, wenn ich wusste, dass am Samstag der „Beat Club“ mein nichtsnutziges und von schlechten Schulnoten verdunkeltes Leben für ein halbes Stündchen veredeln würde. Noch heute denke ich samstagnachmittags, dass jetzt bald der „Beat Club“ anfängt, 50 Jahre danach.

Der Zauber des Fernsehens entspringt eben oft auch aus dem Zauber des gelernten Sendeplatzes. Zum Beispiel gehört ein „Tatort“ auf den Sonntag um 20.15 Uhr. Alle anderen Zeiten sind Mist. Zu allen anderen Zeiten ist ein „Tatort“ ein minderwertiger Durchschnittskrimi der Soko-Klasse. Strenggenommen ist er das am Sonntag auch, aber das fällt weniger auf, weil der Zuschauermensch gelernt hat, seine Zeit am Sonntagabend nur beim Anschauen einer „Tatort“-Folge als sinnvoll zu empfinden.

Ich musste eine Zeitlang mal jeden „Tatort“ besprechen. Man hat als Journalist Zugang zu so genannten Vorführräumen der Sender, wo man wichtige Produktionen vorab besichtigen darf. Ich hätte den „Tatort“ also beispielsweise mittwochs um neun Uhr anschauen können. Tat ich aber nicht. Ich schaute den „Tatort“ der Folgewoche pünktlich am Sonntag um 20.15 Uhr. Die anderen schauten den gerade ausgestrahlten Krimi, ich den, der noch kommen würde und den nur ich schon sehen durfte. Es ging um das Gefühl um 20.15 Uhr, um die Magie des Augenblicks.

Jahrelang musste ich auch „Wetten, dass…?“ rezensieren. Das fiel mir immer leicht, weil ich Spaß an diesem opulenten Nichts von Show und eine ausgeprägte Lust am geschmacklichen Unfall hatte. Erklang am Samstag um 20.15 Uhr die Eurovisionshymne, machte sich in meinem Körper Erregung breit, schütteten die dafür abgestellten Drüsen Glückshormone aus. Das war ein großes Vergnügen, das mir allerdings verwehrt blieb, wenn ich mal am Samstagabend nicht konnte und meinen Videorekorder bemühen musste. Das war nicht dasselbe, „Wetten, dass…?“ am Sonntagmorgen zu schauen. Die Eurovisionshymne klang schal, die Gags zogen sich, und die Durchsichtigkeit der Inszenierung wurde rasch offenbar. Würden Wissenschaftler mal all meine Kritiken zu „Wetten, dass…?“ untersuchen und dabei vermerken, ob ich live oder vom Band geschaut habe, würden sie sicherlich feststellen, dass es signifikant mehr Verrisse gab, wenn ich mich aus der Konserve bediente.

Genau deshalb bin ich ein großer Freund der geregelten Verhältnisse im Fernsehen. Wann welcher Sender seine US-Krimis zeigt und wann er eher auf Dokusoaps oder Factual Entertainment setzt, weiß ich nicht, ich spüre das. Ich habe eine Art Kompass in mir, der mir stets sagt, zu welcher Zeit, bei welchem Sender das Verweilen lohnt und wann es wo Zeit ist, hurtig die Hufe in die Hand zu nehmen. So wie ich aus dem Fenster schaue und ungefähr weiß, wieviel Uhr es ist, so genau erkenne ich den Wochentag an dem, was gerade in der Kiste läuft. Würde man mich mal nach einem langen Koma aufwecken, und im Fernsehen liefe „Alarm für Cobra 11“, wüsste ich gleich: Ahh, Donnerstag. Das heißt: ich weiß das nicht, meine innere Kompass-Uhr weiß das.

Natürlich kann ich auch mit Mediatheken, mit Netflix und Sky und Maxdome umgehen oder mit all den Kram, der sich auf meiner Festplatte stapelt, aber das ist nicht dasselbe. Wenn ich mich dort bediene, bekommen die Sendungen, die ich mir anschaue, eine viel höhere Wertigkeit, allein weil ich sie mir ja ausgesucht habe. Schnelles Weiterzappen ist da nicht so angesagt, denn dadurch würde ich meine frühere Entscheidung, dass ich die Sendung für wert erachtete habe, auf meine Festplatte gebannt zu werden, ja konterkarieren. Aus demselben Grund tut man sich ja auch schwer, die Vorführung eines schlechten Kinofilms zu verlassen. Im Fernsehen wäre man schon längst vier Sender weitergezogen, im Kino klebt man immer noch am Stuhl.

Fernsehen aus dem Speicher ist eben etwas anderes als Fernsehen linear. Konservenkost erfordert automatisch eine höhere Aufmerksamkeit, während ich das Live-Erlebnis eher mit Unverbindlichkeit verbinde. Beim linearen Schauen habe ich niemandem versprochen, dass ich ihn ernsthaft anschauen werde, da bin ich ein freier Vogel und kann zu dem Ast hüpfen, der mir gerade passt. Mich entspannt das kolossal.

Ursächlich für solch ein Verhalten kann natürlich auch die relativ komplizierte Menüführung vieler Mediatheken und Streaminganbieter sein. Ich finde es zunehmend anstrengender, mich da durchwühlen zu müssen, mir aus den eher kargen Informationen und Bildchen eine kompetente Meinung zu bilden. Außerdem geht das, was mir dort angeboten wird, nach dem Klick meist von vorne los, und nicht jeder Anfang reißt einen gleich vom Hocker.

Wie viel schöner, wie viel unverbindlicher ist es da doch, wenn man mitten in eine Sendung hineinplatzt. Wer spät kommt, darf auch früh wieder gehen. Gutes Rezept übrigens auch für Partys, die es absehbar nicht in die Kategorie nonplusultra schaffen werden. Da legt man irgendwann um Mitternacht einen vielbeachteten Auftritt hin, und keiner ist böse, wenn man um halb eins entschwindet, um die nächste Festivität mit Anwesenheit zu beehren.

Genau so halte ich es mit dem Fernsehen. Ich muss nur noch herausfinden, wer all die Minuten aus meinem Durchschnittskontingent wegguckt, die ich nicht schaffe.