Je suis Susanne. Oh mein Gott, wie konnte das passieren? Meine Identität hat sich verdoppelt. Mit einem Artikel, mit einer neuen Vorliebe. Auf einmal war ich als Hans Hoff nicht mehr allein, auf einmal war ich auch Susanne Wagner. Und alles nur, weil ich neuerdings wieder gerne Radio höre.

Nein, Radio ist falsch, das würde die Gesamtheit abbilden all dieser Sender, die sich im föderalistischen System so verzweifelt ums Regionale kümmern und dabei gar nicht merken, wie sie ihren Hörern den Blick aufs Große und Ganze verstellen.

Ich wage mal die These, dass die Fremdenangst, die sich dieser Tage bei manchen Mitmenschen breitmacht, auch fußt auf dem Klein-Klein jener Medien, die sich so unbedingt dem Lokalen, dem Regionalen verschrieben haben. Die verfestigen damit ungewollt ein Weltbild, das jenseits der Stadtgrenze oder schon im nächsten Bundesland sehr unscharf wird. Sie gehen von der These aus, dass den Menschen nur interessiert, was direkt um ihn herum passiert. Das stimmt natürlich nicht, aber es wird immer richtiger, je länger man den Zuschauer, den Hörer, den Nutzer darauf konditioniert, dass vor allem wichtig ist, was man beim Blick aus dem Fenster erspäht. Weltoffenheit wird so aber verhindert. Da wird Berlin dann rasch zur Metapher für „die da oben“ und Brüssel zum Nachtgespenst, das sich tagsüber durch Aktenordner frisst und nachts Menschenseelen raubt.

Mich hatten sie damit auch lange gefangen. Sie haben mir so lange die Verkehrsunfälle und die süßen Tiere und die engagierten Hausfrauenvereine der näheren Umgebung präsentiert, bis ich dachte, dass diese das Wichtigste auf dieser Welt seien. Ich habe mir bei meinem Medienkonsum keine großen Gedanken darüber gemacht und angenommen, das müsste so sein. Muss es aber nicht.

Irgendwann habe ich dann das Radiohören eingestellt, weil mich die ewig gleichen Berichte von der nächsten Milchkanne und dieses krampfhafte Herunterbrechen von internationalen Themen aufs Lokale genervt haben. Ich habe dann die angesagten Podcasts gehört. Wie man das halt so macht als Beauftragter für Medienbegutachtung.

Aber an einem Tag sind mir unterwegs die Podcasts ausgegangen, und ich habe wieder das Autoradio angeschaltet, bin an den Sendersuchlauf gekommen und hängengeblieben an einer Station, die mich nachhaltig erfreut hat. Es gibt dort intelligente Berichte aus Kultur und Politik und leichtfüßig-intelligentem Pop aus vielen Ländern zwischendrin. Vor allem machen die Berichte nicht Halt an der Grenze meines Bundeslandes, sie handelen einfach mal von ganz Deutschland und wagten auch des Öfteren mal einen Blick in die Welt hinaus. Ich freute mich, dass ich endlich nicht mehr permanent unterfordert wurde.

Gestaltet ist das alles so, dass mein Interesse an fernem Unentdecktem geweckt wurde, dass ich mich nicht mehr fragte, was mich die neueste Entwicklung in Brasilien oder Afrika angeht. Vielmehr fand ich hochinteressant, wie man da beinahe beiläufig meinen Horizont erweiterte, wie man meinen inneren Vorhang ein bisschen weiter aufschob und mir zeigte, dass die Welt in Wahrheit in Cinemascope sendet und nicht in der Größe eines iPad-Guckkastens.

Um es kurz zu machen (was angesichts der bis jetzt schon ausgestoßenen Wortmenge natürlich eine Quatschphrase ist), ich war beim Deutschlandfunk Kultur gelandet, einem Sender, der auf meinem Radar gar nicht mehr verzeichnet war, den ich irgendwann in grauer Vorzeit unter „verschnarchte Klassikstation mit überkommenem Kulturbegriff“ abgelegt hatte.

Ich war kurz erschrocken, weil ich da offensichtlich einen Wandlungsprozess komplett verschlafen hatte. Vielleicht ist aber auch in mir eine Veränderung vonstattengegangen, vielleicht haben sich meine Vorlieben neu justiert. Ich weiß es nicht, es ist auch egal. Deutschlandfunk Kultur ist nun mein Sender. Der neue heiße Scheiß aus dem Podcast-Sektor hat es jetzt schwerer, bei mir zu punkten.

In diese meine neue Seligkeit platzte allerdings am vergangenen Montag ein Bericht des „Tagesspiegels“. In dem war zu lesen, dass bei Deutschlandfunk Kultur ein Stilistik-Handbuch kursiert, in dem es eine Anleitung gibt, wie man die ideale Hörerin erreicht. „Deutschlandfunk Kultur möchte Orientierung stiften, zuallererst und insbesondere für Susanne Wagner“, stand da, und es folgte ein ausgefeilter Lebenslauf einer fiktiven Susanne Wagner.

Was soll ich sagen? Ich bin nicht wie Susanne Wagner in Leipzig geboren, habe nicht in Freiburg studiert, und Italien ist nicht mein Sehnsuchtsland. Ich habe heute auch keine Firma für nachhaltige Architektur, kämpfe nicht gegen steigende Mieten in Sachsenhausen und unterstütze auch kein Mädchen-Schulprojekt in Simbabwe. Trotzdem fühle ich mich mit Susanne Wagner sehr verbunden.

Unsere Gemeinsamkeit setzt sich sogar fort bei dem, was die Verfasserin der Stilistik-Fibel Abschaltfaktoren nennt. Sie listet Schlager, Balkan-Pop und Klassik auf, was den „Tagesspiegel“ nachhaltig irritierte, weil doch Klassik quasi automatisch zur Kultur gehört.

Ich kann das erklären, weil ich Susanne Wagner bin. Für mich hat Klassik nicht mehr das Merkmal der Ausschließlichkeit. Klassik steht für mich gleichberechtigt neben all der anderen Musik in der Welt, und wenn es einen inhaltlichen Grund gibt, warum ich jetzt gleich etwas Klassisches hören soll, dann bin ich dem nicht abgeneigt. Ich bin da wie ein Kleinkind. Ich tue vieles freiwillig, wenn man es mir nur vernünftig erklärt. Dann können auf „Smells Like Teen Spirit“ gerne auch mal Stravinsky oder Shostakovich folgen.

Ich mag nur nicht, wenn die erste Assoziation nach der Erwähnung von Kultur Klassik ist. Es mag Menschen geben, die das unabdingbar finden, aber die sind nicht ich und auch nicht Susanne Wagner.

Der „Tagesspiegel“ hat dann noch versucht, aus der Existenz des Stilistik-Handbuches einen kleinen Nachfolgeskandal zur Framing-Manual-Affäre der ARD zu zimmern, den Deutschlandfunk-Gewaltigen so etwas wie interne Meinungsdiktatur zu unterstellen. Das ist ihm nicht gelungen, was auch daran liegen mag, dass solche Anleitungen mit fiktiven Musterhörern so alt sind wie das Radio selbst.

Ich habe nur kurz ein bisschen in meinem Archiv gewühlt und einen Zettel gefunden, in dem vor vielen Jahren, es muss so um 2010 herum gewesen sein, der Idealhörer von WDR 4 beschrieben wurde. Der hieß lustiger Weise Hans und wurde mit „leicht übergewichtig und hoher Blutdruck“ beschrieben. Er war damals 62 Jahre alt, Kfz-Meister, hatte einen Hund und ein Haus in Hagen (schuldenfrei). Er war bei der IG-Metall und noch nie bei einer Demo.

Ich fand das 2010 schon eine sehr absurde Beschreibung, und auch wenn ich mit Name, Gewicht und Blutdruck perfekt beschrieben war, wollte ich nie wie der sein. Aber ich dachte: Wenn es denen bei WDR 4 hilft, eine Gesprächsgrundlage für Diskussionen über Musterhörer zu schaffen, dann bitteschön. Es ist schon Schlimmeres passiert in deutschen Radiostationen, und beim WDR-Radio wussten sie 2010 ja noch nicht, dass das Schlimmste noch kommen würde. Aber dazu ein anderes Mal mehr.

Das Lustige an den stilistischen Anleitungen ist, dass, obwohl die Beschreibung bei Deutschlandfunk Kultur viel weniger auf mich zutrifft als die alte von WDR 4, ich lieber Susanne Wagner als der fiktive Hans sein möchte.

Ich liebe halt das aktuelle Programm von Deutschlandfunk Kultur. Es fühlt sich mit seinem intelligenten zeitgemäßen Feuilleton an wie genau auf mich zugeschnitten. Wie konnte das passieren? Egal. Nennt mich von mir aus Susanne. Nennt mich irgendwas. Aber macht genau so weiter. Je suis Susanne.