Als Mai Thi Nguyen-Kim im Dezember 2018 gemeinsam mit Ranga Yogeshwar Interviews gab, weil sie die Nachricht promoten wollte, dass sie dem ewig jungen alten Mann der televisionären Wissensvermittlung als Moderatorin der Wissenschaftssendung „Quarks“ nachfolgen werde, sagte sie einen besonderen Satz. „Es wird Themen geben, wo es eine gute Idee ist, mich anzurufen.“ Nun prasselten die Anrufe 2019 nicht gleich massenweise ins Haus, was möglicherweise auch daran gelegen haben mag, dass sich Mai Thi Nguyen-Kim auf das Veröffentlichen von Videos in ihrem YouTube-Kanal mai lab konzentrierte und dann schwanger wurde, kurz bevor das Corona-Virus die Weltherrschaft übernahm.

Es ist nun nicht so, als sei Mai Thi Nguyen-Kim in dieser Zeit unerfolgreich gewesen. Ihre Videos, in denen die Chemikerin, die 2017 an der Universität Potsdam mit dem Thema „Physikalische Hydrogele auf Polyurethan-Basis“ promovierte, wissenschaftlichen Dingen schön schlau und unterhaltsam auf die Schliche kommt, wurden gut geklickt. Als sie das mit den Themen, „wo es eine gute Idee ist, mich anzurufen“, sagte, wurde sie gerade mit dem Webvideopreis ausgezeichnet, und ihr achteinhalb-Minuten-Werk, das via Funk über Fluoride und Zahnpasta aufklärte, stand bei rund 220.000 Abrufen. Inzwischen liest man da als Erfolgszahl 530.000, was aber ein Klick-Klacks ist verglichen mit dem Erfolg, den Mai Thi Nguyen-Kim erzielte, als sie sich am 1. April als junge Mutter zurückmeldete und verkündete, dass das mit Corona noch länger nicht vorüber sein wird, vielmehr als eine sehr langwierige Angelegenheit zu begreifen ist


Hatte sie sich mit ihren Videos vorher schon auf Abrufzahlen um die eine Million hochgearbeitet, so explodierte nun die Statistik. Inzwischen stehen 6,1 Millionen Abrufe in der Bilanz, was zur Folge hatte, dass nicht wenige Menschen auf die Idee kamen Mai Thi Nguyen-Kim anzurufen. Sogar die Tagesthemen waren dabei, die sie am 7. April zum Kommentar baten. Da saß Mai Thi Nguyen-Kim dann vor der blauen Weltkarte und wirkte wie immer klug und klar in ihrer Argumentation, machte aber einen seltsam angespannten, ja beinahe steifen Eindruck. Sie sprach langsamer als sonst. Nichts war zu spüren von der schnittigen Sprunghaftigkeit, vom Tempo, das ihre Videos zu einer stets lehrreichen und gleichzeitig unterhaltsamen Sache werden lassen. Ohne die Jump Cuts war es fast schon schwierig, ihr 105 Sekunden konzentriert zu folgen. Es offenbarte sich auf besondere Art die Qualität der von ihr entwickelten Art der Wissenspräsentation.

Man könnte es natürlich auch andersherum sehen und erkennen, wie altbacken die Form des „Tagesthemen“-Kommentars daherkommt. Mit einem Take entlarvte Mai Thi Nguyen-Kim diese statische, staatstragende und wichtigtuerische Institution. Sehr deutlich wurde, dass die Zeit dieser den Zeitungskommentaren abgeschauten Art der Meinungsäußerung abgelaufen ist.

Wenn man einem 23-Minuten-Video von Mai Thi Nguyen-Kim leichter folgen kann als einem „Tagesthemen“-Kommentar spricht das nicht gegen die Langform, denn die geht wirklich in die Tiefe, geizt nicht mit Fakten und eigentlich komplizierten Zusammenhängen. Das ähnelt streckenweise einer Vorlesung, allerdings einer sehr guten.

Der Erfolg der Videos hat natürlich auch damit zu tun, dass Mai Thi Nguyen-Kim sich sehr klar fokussiert. Sie visiert die Kamera an, spricht sehr deutlich mit den Händen, vergisst ihre Teetasse, und das Ringlicht, das sich in ihren Augen spiegelt und sie ab und an der Dschungelbuchschlange Kaa ähneln lässt, zieht die Zuschauer, die sie gerne als „Freunde der Sonne“ tituliert, noch etwas mehr in ihren Bann. 

„Hallo, ich heiße Mai. Ich bin Chemikerin und ich mache Science-Videos.“ So hat sie sich mal in einem Video vorgestellt, und eigentlich sagt das schon alles. Andererseits ist es natürlich keine umfassende Erklärung, sondern nur ein Anhaltspunkt. Die wesentliche Qualität offenbart sich in der Art von Mai Thi Nguyen-Kim, die sich als eine Art Dschungel-Guide andient. Sie hat mit ihren Worten die Machete in der Hand und bahnt für den Zuschauer einen Weg durchs undurchdringlich wirkende Gestrüpp von Fakten, Studien und Theorien. Sie weiß was, vor allem aber weiß sie, dass sie was weiß. Mit ihrer selbstbewussten Art macht sie deutlich, dass sie als Wissensvermittlerin ernst genommen werden will und dass sie keinen Bock hat, auch nur eine Minute auf dem „Wir brauchen unbedingt mal wieder eine Frau“-Ticket zu fahren. 

Es ist dieses Unprätentiöse, das sie auszeichnet, aber all dieses Unprätentiöse wäre nichts, wenn man nicht auch ein paar Tricks drauf hätte. „Mach einen guten Inhalt, wisse worüber du redest, wisse um dein Publikum, mach es mit Lust, and don’t give a shit about the rest“, hat ihr Ranga Yogeshwar 2018 zum Stabwechsel bei „Quarks“ ins Poesiealbum geschrieben und sich umgehend Protest eingehandelt. Für Mai Thi Nguyen-Kim geht es eben auch um Unterhaltung. „In jedem Video muss mehrfach gelacht werden“, sagte sie damals.

Sie plädierte also für das Stückchen Zucker, mit dem die vermeintlich bittere Medizin Wissenschaft zu verabreichen ist. Die Kunst sei es, den Vortrag auf den ersten Blick unterhaltsam wirken zu lassen, dann aber in die Tiefe zu gehen, erklärte sie. Vielleicht ist Tiefe das Wort, das am besten zu dem passt, was sie zeigt.

Man kann bei ihr immer, in jedem Moment in die Tiefe gehen. Man kann die Informationen, die unter ihren Worten liegen, überprüfen, und dann noch jene, die da drunter liegen. Man wird auf nichts Falsches stoßen, auf nichts, was mal eben so dahingesagt wurde. Alles ist recherchiert, alles entspricht dem aktuell bekannten Stand der Forschung. Dass sich da auch mal etwas ändert, liegt im Wesen guter Wissenschaft, die sich nicht dagegen sträubt, auch mal klüger zu werden als gestern noch. 

Natürlich macht sie das alles nicht allein, natürlich hat sie ein Team im Rücken, wenn sie sich etwa in ihrem jüngsten Video der Frage widmet, wie das ist mit der Biologie bei Müttern und Vätern. „Sind Väter schlechtere Eltern?“ fragt sie und räsoniert über Oxytocin, Testosteron und den anterioren cingulären Cortex.  

Offen bleibt da selbstredend die eine zentrale Frage, die sie immer wieder zu hören bekommt. Wie spricht man eigentlich diesen Namen aus? Mai Thi Nguyen-Kim? Nun, auch das hat sie bereits aufgeklärt. Es reiche, wenn man Nguyen in etwa wie das Nürn in Nürnberg ausspreche. Jene, die sich ein bisschen mehr Mühe geben wollten, könnten noch versuchen, die ng-Kombination hinzuzufügen, die sie bei Worten wie „eng“ oder „lang“ so prima beherrschen.

Alle Fragen geklärt? Nein, natürlich nicht. Es gibt noch so viel zu erforschen. Mai Thi Nguyen-Kim, bitte übernehmen.