Das waren auch noch richtige Formate. Wirklich neue Ideen. Heute gibt es ja oft nur Abwandlungen bestehender Ideen...

Bei „Big Brother“ wusste damals niemand, was passiert. Kommen die Leute da raus und werden fertig gemacht? Oder sind es plötzlich Stars? Inzwischen ist „Big Brother“ von allen Seiten kalkulierte Routine. Fernsehen geht heute einfach viel weniger Risiko ein. „Schwiegertochter gesucht“ ist durchinszeniert, und das größte Risiko bei „Bauer sucht Frau“ ist, dass sich der schwule Bauer und sein Freund so gut verstehen, dass es kein aufregendes Material hergibt. Die Ausnahme ist Stefan Raab. Bei „Schlag den Raab“ gibt’s kein Netz und doppelten Boden - und das macht auch einen großen Teil des Reizes aus.

 

 

Stichwort Risiko: Wo sind eigentlich die Koflers, Andorfers, Schawinskis hin, die Risiken eingegangen sind? Vieles davon ging schief, aber die Lust und die Überzeugung war da...

Das kann sich heute ja niemand mehr leisten. Bei den Privatsendern geht es nur noch um eine sichere Rendite und auch bei den Öffentlich-Rechtlichen regieren die Angsthasen. Man muss sich nur mal anschauen, was die ARD für modernes Fernsehen hält. Den Vorabend will man mit Schmunzelkrimis aufmöbeln – das ist eines der abgewohntesten Genres des deutschen Fernsehens. Die drei Serien, die jetzt laufen, sind von bestürzender Biederkeit und lähmender Bräsigkeit. Und ansonsten laufen im Serienbereich dann dienstags „Das Glück dieser Erde“ und „Die Stein“, was wirklich Fernsehen ist, das aus der Zeit gefallen ist.

Aber die ARD traut sich doch jetzt was. Gottschalk am Vorabend...

Stimmt, das ist tatsächlich spannend. Ich bin zwar nicht sehr optimistisch, ob es gelingt. Aber die sollen das ruhig mal versuchen. Beim ZDF hätte er ja in Zukunft vermutlich nur Varianten dessen gemacht, was er immer schon gemacht hat. Stattdessen wagt er ein Experiment mit völlig offenem Ausgang, das ist doch aller Ehren wert. Ein positives Beispiel ist auch „neoParadise“. Das Risiko ist auf dem Quoten-Niveau von ZDFneo natürlich auch nicht so hoch und ich weiß nicht, ob Joko & Klaas nicht gerade überpräsent sind. Aber man merkt, dass dort jederzeit etwas passieren kann und dass die Spaß dabei haben. Und der überträgt sich...

Bei Harald Schmidt sehe ich das leider nicht mehr. Von der Rückkehr zu Sat.1 bin ich schwer enttäuscht.

Nicht nur Du. Aber ich bin schon lange von den Schmidt-Shows gelangweilt, vielleicht sogar fast so sehr wie er selbst. Und selbst wenn Schmidt wieder so wäre wie früher, würde es nicht funktionieren, weil Sat.1 einfach nicht mehr so ist wie früher. Da stecken noch nicht mal fehlgeleitete Ambitionen hinter, sondern gar keine. Da läuft irgendwas und dann kommt plötzlich Harald Schmidt. Da fehlt jegliche Fallhöhe. Er macht das, was er immer macht. Das ganze deutsche Fernsehen besteht aus Sendungen, die so sind, wie sie immer schon waren. Eine einzige Wiederholungsschleife.

Wenn wir mal auf die Quoten schauen und betrachten, welcher Sender sich in den letzten zehn Jahren am Besten entwickelt hat, dann wäre das VOX. Ich frage mich nur: Überspannt man mit einem Modelcasting nach „X Factor“ ein wenig den Bogen?

Ich weiß es nicht. Ich finde, man kann sich „X Factor“ anschauen und es gut finden, dass man so eine Castingshow auch anders machen kann als „DSDS“ - und das sogar von der gleichen Produktionsfirma. Aber ich weiß nicht, ob es das Ziel sein kann, etwas Schlimmes einfach weniger schlimm zu machen.

Nicht so negativ. Freuen wir uns: Es gibt kein 9Live mehr. Obwohl ich in stillen Stunden manchmal diesen Bad Boy des deutschen Fernsehens vermisse...

Ich vermisse sie nicht. Ich hatte auch zum Schluss nicht mehr das Gefühl, mich an diesem Elend publizistisch abarbeiten zu müssen. 

Zum Ende von 9Live haben viele Webangebote beigetragen, die eine Öffentlichkeit für die Methoden und Abläufe des Call-TV-Geschäfts geschaffen haben. Das hätte so vor zehn Jahren wohl kaum auf den Medien-Seiten der Tageszeitungen stattgefunden. Ist die Medienberichterstattung heute besser als vor zehn Jahren?

Ich glaube nicht. Wir erleben doch nur diesen Virus der Fernseh-Nacherzählung, die nichts anderes leistet als noch einmal aufzuschreiben, was man gesehen hätte, wenn man eingeschaltet hätte. Selbst bei „Spiegel Online“ kann ich am Dienstag unreflektiert nachlesen, was am Montag  bei „Bauer sucht Frau“ passierte. Das ist doch verlogen, wenn man sich bei anderer Gelegenheit wieder darüber erhebt und schreibt, was für ein schreckliches Fernsehen das ist. Man greift die Popularität für Klicks ab, aber distanziert sich gleichzeitig davon?