Frau Davis, wer noch nichts über „How to get away with murder“ gehört haben sollte - um was geht es in der Serie. Um Moral geht es sicher nicht…

(lacht). Nein, sicher nicht. Moral bringt Annalise Keating nicht weit. „How to get away with murder“ ist eine Serie über die Beziehungen dieser mysteriösen, engagierten Professorin an der fiktiven Middelton Law School mit den fünf Studenten aus ihrer Vorlesung, die sie auserwählt um mit ihr an echten Fällen zu arbeiten. Doch ihre Beziehungen, Geheimnisse und Abhängigkeiten werden selbst zu einem alles entscheidenden Fall.

Ist Annalise Keating mit ihrer skrupellosen, aber dennoch verständnisvollen Art für Sie eher Vorbild oder Antihero?

Ich gebe Menschen nicht gerne Labels. Ich höre nicht zum ersten Mal, dass sie ein Antihero sei, aber ich denke sie ist eine komplexe, komplizierte Persönlichkeit. Annalise Keating steht Tony Soprano aus „Die Sopranos“, James Spader in „The Blacklist“ oder Dexter da in nichts nach. Das gefällt mir. Ich habe in meiner Karriere schon eine Reihe an sehr liebenswerten, moralisch einwandfreien Rollen gespielt, die ich am Ende des Tages nicht immer wirklich glaubwürdig fand, weil etwas fehlte. Meine Aufgabe als Schauspielerin liegt darin, einen Charakter wahrheitsgemäß zu spielen.

Wie würden Sie das definieren?

Für eine Schauspielerin bedeutet wahrheitsgemäß zu spielen, sich an der von den Autoren ausgeprägten Charakterisierung der Figur zu orientieren. Wenn ich mich jetzt auf den Wettbewerb um die beliebteste Serienfigur einlassen würde oder selbst über die Vorstellung der Autoren daran arbeiten würde, Annalise Keating als Vorbild spielen zu wollen, würde ich den Charakter verändern. Ich würde dem Charakter nicht mehr gerecht werden sondern versuchen etwas Anderes daraus zu machen. Deshalb erfreue ich mich selbst daran, dass Annalise manchmal gemocht wird, manchmal nicht.

Gut, halten wir also fest: Kein Label für Annalise Keating.

Wir wünschen uns doch auch abseits des Fernsehens, dass man Menschen keine Labels gibt, weil man sie damit reduziert. Deshalb gibt es für die Rolle der Annalise Keating eben auch keins. Und jemanden zum Vorbild zu machen, ist das gefährlichste aller Labels, die wir uns geben können. Es gab doch Gott weiß wie viele Vorbilder in öffentlichen Ämtern, die später dann demaskiert wurden (lacht).

Eine tolle Überleitung. Ohne zu viel zu spoilern: In der vierten Folge erleben wir im Schlafzimmer der starken Annalise Keating eine wortwörtliche Demaskierung. Es wurde zur meistdiskutierten Szene der ersten Staffel. Ihre Lieblingsszene?

Es ist eine starke Szene, weil sie eine Wahrheit verkörpert: Kein Mensch ist rund um die Uhr so schön, wie wir ihn oder sie vielleicht kennen. Aber es gibt viele Szenen und Geschichten aus der ersten Staffel an die ich mich gerne erinnere. „Mama’s Here Now“ (im Deutschen: Strippenzieher) ist eine Episode, bei der ich mich intensiv mit den Autoren ausgetauscht habe.

Das ist die 13. Folge der ersten Staffel. Da sollten wir vorsichtig sein, um den deutschen Zuschauern nicht die Spannung vorweg zu nehmen.

Dann nur so viel: Die Erfahrungen und Hintergründe, die in dieser Folge über Annalise Keating ans Licht kommen, kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich weiß wie solche Ereignisse Menschen verändern und wie schwierig sie es machen, Vertrauen und Bindung zu anderen Menschen aufzubauen.

Stört es Sie, dass die in den USA meistdiskutierte Szene der ersten Staffel sich an Äußerlichkeiten aufhing?

Wenn es eine männliche Hauptfigur wäre, würden wir jedenfalls über nichts dieser Art diskutieren. Es ginge dann nicht darum ob die Zuschauer sich schnell mit ihm identifizieren können, ob er attraktiv ist und all diese Dinge. Niemand hat mit James Gandolfini über so etwas geredet. Ich bin ziemlich sicher, dass ihn niemand gebeten hat, doch bitte für die Likebility abzunehmen. Sie haben ihm erlaubt zu sein, wie er ist. Und nur so konnte er einen Charakter portraitieren, der so nachvollziehbar war und möglicherweise die beste Serienfigur war, die wir im Fernsehen bislang gesehen haben.

Was hat Sie eigentlich ursprünglich an der Rolle der Annaliese Keating so fasziniert, dass Sie zugesagt haben?

Was mich an der Rolle fasziniert hat? Zunächst einmal die Tatsache, dass es eine Hauptrolle ist, die wie für mich geschrieben ist. (lacht) Zweitens gefiel mir auf Anhieb die Möglichkeit, in dieser Rolle so viele Eigenschaften verkörpern zu können: Chaotisch, mysteriös, engagiert, sinnlich… Vielleicht ist das jetzt schwer nachzuvollziehen, aber es gibt für mich einen Unterschied zwischen dem Verkörpern eines Charakters und dem Spielen einer Rolle. Bei einer Rolle weiß man, wofür man besetzt wurde und welche Seiten von einem gewünscht sind. Diese Beschränkung spüre ich bei „How to get away with murder“ nicht.

"Es geht um die Freiheit einen Charakter zu portraitieren weil man als Schauspielerin passt - und nicht weil die Hautfarbe stimmt."

Tony Soprano war eine der ersten Rollen, die den anhaltenden Trend der männlichen Antihero begründete. Shonda Rhimes wiederum bringt gerade die starken Frauen in Hauptrollen weit nach vorne mit Kerry Washington in „Scandal“, Ihnen in „How to get away with murder“ und im Herbst startet „The Catch“.

Sie hat sehr viel bewegt für Frauen in Hauptrollen und besonders farbige Frauen in Hauptrollen. Sie gibt uns eine Plattform um unser Talent in einer Bandbreite zu zeigen, die es zuvor so nicht zu sehen gab. Natürlich gab es immer schon farbige Frauen im Fernsehen, aber oftmals war genau das ihre Rolle: Die Farbige spielen. Es geht um die Freiheit einen Charakter zu portraitieren weil man als Schauspielerin passt - und nicht weil die Hautfarbe stimmt.

Wie passt es zusammen, dass wir im Fernsehen eine neue Vielfalt an Charakteren und auch immer Schwarze in Hauptrollen erleben - siehe „Empire“, „Scandal“ oder eben „HTGAWM“ - und gleichzeitig Rassismus und Hassverbrechen in den USA erschreckend präsent geworden ist in den vergangenen zwölf Monaten?

Ein komplexes Thema, aber interessant dass sie das ansprechen. Da würde ich gerne verschiedene Dinge erwähnen.

Gerne.

Es gibt das durchaus menschliche Verlangen, noch einmal verstärkt im Fernsehen, sehr komplexe Probleme möglichst einfach auf den Punkt zu bringen. Dabei müsste jeder wissen, dass das Leben  nie einfach sondern stets ein sehr komplexes, kompliziertes Gebilde ist. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die jeder Mensch als Herausforderung akzeptieren muss. Leider gibt es Menschen, die davor zurückschrecken; die ihre Welt lieber simpel und einfach hätten. Und genau da kommt der Rassismus ins Spiel. Amerika ist ein Land, das auf Rassismus gegründet wurde. Da braucht man nicht drum herum reden: Sklaverei und Rassismus war über Jahrhunderte das Gesetz unseres Landes. Und jetzt kommt die traurige Wahrheit: Wir können nicht in gerade mal 40 oder 50 Jahren ungeschehen machen, was über Jahrhunderte in der Ideologie von Amerika verankert wurde. So viele Momente des Wandels wir auch in den Medien und der Öffentlichkeit sehen, so finden wir noch sehr viele Aspekte des Lebens in den USA wo sich noch nichts geändert hat. Das sitzt einfach zu tief in unserer Gesellschaft und wird noch Generationen brauchen.

"Ich glaube, dass es für die kreativen Prozesse gefährlich ist, sich zu intensiv mit dem Feedback des Publikums auseinanderzusetzen."

Nach dem Thema ist es schwierig einen Anschluss zu finden. Reden wir über das Feedback der Zuschauer. Durch Social Media ist die Rückmeldung des Publikums so intensiv wie noch nie. Das hat Chancen, aber birgt es nicht  auch Gefahren?

Ohne Publikum gibt es kein Schauspiel, daher sind unsere Zuschauer natürlich elementarer Teil des Erfolges von „How to get away with murder“. Aber Sie haben Recht: Es ist sehr gefährlich. Das ist genau die richtige Wortwahl. Ich glaube, dass es für die kreativen Prozesse gefährlich ist, sich zu intensiv mit dem Feedback des Publikums auseinanderzusetzen. Wir sind wieder an dem gleichen Punkt wie vorhin: Einen Charakter muss man wahrheitsgemäß spielen und nicht um gemocht zu werden. Gemocht zu werden ist das Kryptonit der Kunst.

Schön formuliert.

Ich habe als Schauspielerin die Verantwortung, meinen Charakter und seine Geschichte zu portraitieren. Es ist nicht meine Aufgabe, dem Publikum zu gefallen. Als Shakespeare Richard III. geschrieben hat, dann war seine Intention sicher nicht, einen Charakter zu erschaffen, der gemocht wird. Und jeder Schauspieler, der diese Rolle heute verkörpert, steht da vor einer großen Herausforderung. Berühmter und beliebter werden sie mit anderen Rollen. Aber darum geht es nicht immer.

Frau Davis, herzlichen Dank für das Gespräch.