Herr Endemann, Ihr 180-Minuten-Film „Das Programm“ ist ein spannender Genre-Mix. Wo würden Sie ihn verorten?
 
Der Thriller bildet das große Gerüst des Films, geprägt in erster Linie durch den Schlagabtausch der beiden Figuren der Zeugenschützerin Ursula Thern (gespielt von Nina Kunzendorf) und Familienvater Simon Dreher (gespielt von Benjamin Sadler). Die weiteren Figuren-Konstellationen und auch die Entwicklungen der Figuren selbst sehe ich als klassisches Familiendrama. Beide Genres befruchten sich in diesem Fall und haben aufgrund der Länge auch die Gelegenheit, sich im richtigen Maße zu entfalten.

Kern des Films ist eine Familie im Zeugenschutzprogramm. Selten wurde das Thema so detailliert aufbereitet. Wie viel wussten Sie eigentlich im Vorfeld des Films darüber?
 
Ich hatte zuvor Kontakt mit einer Person, die für eine Zeit im Zeugenschutzprogramm in Kanada gewesen war. So hatte ich schon mal einen sehr persönlichen Einblick in das Thema. Als mir das Projekt angeboten wurde, haben zunächst der Autor des Films Holger Karsten Schmidt und später dann auch ich mit den Beratern des Films mehrfach zusammen gesessen und uns informieren lassen. Einer der Berater war seinerzeit beim LKA Hamburg zuständig für die Einrichtung des Zeugenschutzprogramms in Deutschland. Das waren spannende und direkte Einblicke, die für uns überaus wichtig waren, weil der Film auf einer authentischen Darstellung des Zeugenschutzprogramms fußt. Mir persönlich ist in dem Zusammenhang klarer geworden, was dieser radikale Einschnitt im Leben der vom "Programm" Betroffenen im Detail bedeutet. Und welch tiefpsychologische Arbeit die Zeugenschützer zu leisten haben.
 
Das Projekt war ursprünglich mal ein Zweiteiler, jetzt ist es ein 180 Minuten Film. In welchem Stadium des Projekts wurde denn klar, dass man jetzt durcherzählt und nicht als Zweiteiler inszeniert?
 
„Das Programm“ war ursprünglich als Zweiteiler geplant, das ist richtig. Die Idee, das Werk als 180 Minuten-Film zu zeigen, wurde erstmals während der Dreharbeiten zum Thema. Die schlussendliche Entscheidung ist dann erst im Schneideraum gefallen.

Das Programm© Degeto / Christiane Pausch

 
Wie begeistert ist man als Regisseur, dass man beim Dreh noch nicht weiß in welcher Form das Werk einmal zu sehen sein soll? Das stelle ich mir schwer vor.
 
Das ist zunächst eine schwierige Situation, in der Tat. Gleichzeitig aber war das Buch in seinem Grundgerüst und in seinen zwischenmenschlichen Zutaten so gut gebaut, dass auch dieses lange 180 Minuten-Format bestens funktioniert. Die Konflikte zwischen den Figuren sind überaus vielschichtig, es gibt jede Menge Wendungen. Bei einem Zweiteiler würde es ganz klassisch in der Mitte der Erzählung einen Cliffhanger oder eine große Wendung geben. Einen wichtigen Wendepunkt hat ja aber wiederum jede filmische Erzählung ca. in der Mitte, also passt sozusagen der eigentliche Cliffhanger auch als zentraler Wendepunkt für die ungewöhnlichen 180 Minuten Länge, das ist am Ende erstaunlich deckungsgleich.
 
Im Film fällt ein stilistisches Mittel auf: Viele Schlüsselszenen werden gar nicht von Dialogen sondern allein von Bildern und Atmosphäre getragen….
 
Das ist sicherlich ein tragendes Element des Films. Wir wollten da mutig herangehen und dem Film eine besondere, atmosphärische und für das deutsche Fernsehen durchaus ungewöhnliche Ausstrahlung geben. Die bewusste Auslassung kann eine Stärke sein. Das gibt dem, was gesagt wird, dann auch ein anderes Gewicht.
 
Der Einstieg in den Film wird auf drei Ebenen erzählt und lässt unter Umständen erstmal ratlos zurück. Es wird erst im Nachhinein klar, was man gesehen hat. Ungewohnt risikoreicher Einstieg.
 
Wir als Filmerzähler sollten aktuell den Mut haben, anders zu erzählen. Wir müssen den Zuschauer doch im besten Sinne ernst nehmen und uns nicht zuerst Gedanken über die Verträglichkeit machen. Ich halte es für eine kreative Pflicht Erzählweisen aufzubrechen und dem Publikum die Freude zu gewähren, sich eine Geschichte selbst zu erschließen.

Das Programm© Degeto / Christiane Pausch

 
Stichwort Mut. Haben die Öffentlich-Rechtlichen als maßgeblicher Treiber des deutschen Fernsehfilms den? Oder geht es nicht oft darum, Sendeplätze mit Erwartbarem zu bespielen?

Auch wenn erste mutige Beispiele zu benennen sind, ist das im Kern eine durchaus berechtigte Bestandsaufnahme. Und es ist schade, weil es die Kreativität hemmt. Ich würde es für sinnvoll und kulturfördernd halten, wenn im Verhältnis weniger für Sendeplätze produziert wird sondern die Geschichten im Vordergrund stehen - und dann erst nachdem für die jeweilige Geschichte die ideale Vision und richtige Erzählweise gefunden wurde die Frage kommt, wie man das Werk dem Publikum anbietet. Ich glaube, dass wir gerade doch erleben wie die Zuschauer - und nicht nur die Jüngeren - gelangweilt sind vom allzu Erwartbaren und sich scheinbar sperrige Inhalte inzwischen woanders holen.

Nur zuletzt taten sich z.B. „Mordkommission Berlin 1“ und „Deutschland 83“ schwer, ein ausreichend großes Publikum zu finden. Allzu Unerwartetes ist risikoreich…
 
Zunächst mal sind die von Ihnen genannten Produktionen für sich als Werke hervorragend gemacht. Das müssen wir in der öffentlichen Diskussion um mangelhafte Zuschauerzahlen dringend trennen. Über die Gründe dafür - die verschiedenen Altersstrukturen, Sehgewohnheiten, Sendeplätze, allgemeiner Wandel der Branche - kann man lange diskutieren aber wichtig ist, dass der Mut, der hinter solchen Produktionen steckt richtig und meines Erachtens alternativlos ist und die Lust der Sender darauf anhält.
 
Herr Endemann, herzlichen Dank für das Gespräch.