Herr Graf, ich hatte bei einem Gespräch mit dem RTL-Geschäftsführer inzwischen Oliver Pocher erwartet…
 
(lacht) Sehr schön. Da teilen Sie die Wahrnehmung mit Olli. Er ist der felsenfesten Überzeugung, wenn nicht Geschäftsführer dann aber mindestens Programmdirektor zu sein. Das verkündet er gerne, oft und laut. Wir nehmen das amüsiert zur Kenntnis, weil es nach OnAir-Minuten im Programm eine ganze Vielfalt von Sendergesichtern gibt, die häufiger zu sehen sind als Oliver Pocher. Aber durch seine Lautstärke und seine Lust an Konfrontation fällt er auf. Wir freuen uns, ihn mit einzelnen Formaten bei uns zu haben. Sonst hätten wir den Exklusiv-Deal mit ihm ja nicht gemacht.
 
Was er in Eigenregie immer wieder generiert, ist Aufmerksamkeit.
 
Das ist so. Kaum jemand begreift das Momentum so schnell wie er, Aufmerksamkeit zu generieren und dann zu wissen, was man daraus machen kann. Oliver Pocher ist da sehr spontan und selbst in einer Live-Show muss man immer noch damit rechnen, dass er plötzlich das Gegenteil macht von dem, was besprochen war. Es ist der Gegenentwurf zu einem Fernsehen, das oft sehr genau geplant und von vielen Leuten immer wieder beraten und überarbeitet wurde, um Perfektion anzustreben aber dabei auch das Momentum zu verlieren.


 
Ist „Pocher - Gefährlich ehrlich“ der Corona-Krise geschuldet? Meine These: Dafür hätte RTL vor der Krise vielleicht nicht spontan Platz freigeräumt. Es holt nicht die besten Quoten, aber kostet auch wenig. Neue Prioritäten, die mit Corona kamen?
 
Vielleicht ist da was dran. In Zeiten wie diesen lassen sich manche Genres nicht produzieren. Wir hätten aber auch wahnsinnig gerne „Die Passion“ gemacht. Jetzt heißt es viel zu organisieren mit Formaten, die wir sonst eigentlich im Ausland produzieren wie „Sommerhaus der Stars“ oder „Bachelorette“. Wenn manches gar nicht geht, vieles komplizierter wird, dann wird man auch kreativer. Da sind wir natürlich offen für Ideen, die sich schnell umsetzen lassen. Dafür muss nicht erst wochenlang ein Studio gebaut werden, und dutzende Teilnehmer hin und her geflogen werden. Die Bereitschaft bei so einer Idee zu sagen „Komm, mach mal“ ist sicher höher. Wenn dann so etwas wie „Pocher – echt gefährlich“ dabei rauskommt, macht das außerdem noch großen Spaß.
 
Endet „Pocher - Gefährlich ehrlich“ diese Woche oder geht das in die Verlängerung?
 
Es ist kein Geheimnis, dass wir bei RTL gerne ein oder zwei LateNight-Formate im Programm hätten, wie es früher gute Tradition war. Wenn man sich an Urgesteine wie „7 Tage, 7 Köpfe“ erinnert. Da knobeln wir schon länger dran rum. Für ein LateNight-Format mit Aktualität und einer gewissen Frequenz waren bis dato immer große Teams nötig. Und ein Studioset über Monate stehen zu lassen, aber nur einmal die Woche zu nutzen, ist natürlich teuer und machte es schwierig. Gerade in diesen Zeiten stößt man an wirtschaftliche Grenzen, denn die Ertragskraft auf den späten Sendeplätzen ist schon unter normalen Bedingungen geringer. Wobei Fernsehen immer eine Mischkalkulation ist und man nicht auf jedem Sendeplatz natürlich den Deckungsbeitrag erreichen muss.
 
Und was heißt das jetzt?
 
Ich würde es sofort weiter machen und auch durch den Sommer ziehen, wenn wir nicht auch wirtschaftlich mit den Auswirkungen von Corona im Programm umgehen müssten. Das beurteilen wir gerade wöchentlich neu und werden die Entscheidung im Juni treffen. Die News und Informationsprogramme haben natürlich oberste Priorität und dann unsere starken Marken wie „Wer wird Millionär“, „Supertalent“, „Sommerhaus der Stars“, „Bachelorette“ oder „Ninja Warrior Germany“. Und bevor ich jetzt neuen, aufwendigen Ideen Budget gebe, will ich erst einmal diese eingeplanten Produktionen auf den Weg bringen. Wenn das der Fall ist, investieren wir in Neues. Bei „Pocher - gefährlich ehrlich“ muss man sicher nochmal schauen, wie sich die spontanen Geschenke aus der Social Media-Welt, die Pocher mit Dank aufgreift, durch feste Rubriken und Elemente ergänzen ließe.
 
Mitte März haben wir ein Gespräch geführt über die Auswirkungen der Krise auf die TV-Branche - das war noch vor Kontaktverbot und Maskenpflicht. Ist es mit Blick auf die Branche nach heutigem Stand besser oder schlechter gelaufen als sie es damals gedacht haben?
 
Ich glaube besser. Anfänglich hatte nicht nur die Fernsehbranche die Sorge vor dem totalen Lockdown, wie wir ihn in Italien beobachten konnten. So, dass nichts mehr produziert werden kann. Wenn ich heute zurückschaue, dann muss ich wirklich sagen, dass es mir wie ein Wunder erscheint, dass wir bis zum Finale von „Let’s Dance“ gekommen sind oder „Denn sie wissen nicht, was passiert“ produzieren konnten. Das liegt wirklich daran, dass die Produzenten unfassbar daran gearbeitet haben, mit aller gebotenen Vorsicht und entsprechenden Maßnahmen die Produktion sicherzustellen. Da möchte ich an dieser Stelle ein großes Dankeschön für die Tatkraft und Umsicht an alle in Produktion und Redaktionen aussprechen, die uns und unseren Zuschauerinnen und Zuschauern in den vergangenen Wochen unter schwierigen Umständen tolles Programm geliefert haben. In guten Zeiten jammert oder diskutiert man manchmal über Dinge, die einem so klein und nichtig erscheinen, wenn es wie in diesen Zeiten um alles geht. Da haben wir alle an einem Strang gezogen.

"Sobald der Markt anzieht, sind wir am Start. Bis dahin wird man ein Mehr an Wiederholungen im zweiten Halbjahr sehen."

Wird das Programm von RTL Corona-bedingt im zweiten Halbjahr anders aussehen als man es erwarten würde?
 
In der Information und Unterhaltung nicht. Wir arbeiten daran, alles umsetzen zu können, was wir uns vorgenommen haben. Und dank der guten Zusammenarbeit mit den kreativen und engagierten Produktionsfirmen sieht es auch so aus als würde uns da alles gelingen. Es kommen also im Grunde alle Formate, die unsere Zuschauerinnen und Zuschauer bei RTL lieben. Aber es ist natürlich ärgerlich, bei uns wie aber auch unseren Wettbewerbern, dass viele neue Ideen in Vorbereitung waren, die man bei den Screenforce Days vorstellen wollte und jetzt einige davon erstmal schiebt, bis der Werbemarkt wieder anzieht. Ein, zwei neue Sachen werden wir trotzdem on air bringen - allerdings erst zum Start in die neue Saison. Wer am 31. Dezember zurückblickt, wird feststellen, dass die Vielfalt im Programm so gegeben war wie sonst auch.
 
Bis auf die Fiction, nehme ich an?
 
Die große Ausnahme ist natürlich die Fiction. Die Drehverschiebungen bzw. -stopps haben uns hier ordentlich Probleme bereitet. Das ist bei RTL ja im Wesentlichen der Donnerstag. Da können wir den Zuschauerinnen und Zuschauern 2020 nicht so viel Neues bieten wie wir es geplant hatten. Ich habe mich auch dagegen entschieden, zum Beispiel den Film über die Karriere von Boris Becker jetzt schneller und mit Kompromissen fertigzustellen. Das würde den Projekten nicht gerecht. Unglücklich für uns war in den vergangenen Wochen, dass bei der allgegenwärtigen Corona-Krise eine Krankenhaus-Serie wie die „Nachtschwestern“, in der die Protagonistinnen nun mal auch oft mit Maske unterwegs sind, in diesem Kontext ein schwierig zu programmierendes Genre ist.
 
Wenn es keine frische Fiction für den Donnerstag gibt, programmieren Sie den Abend um?
 
Normalerweise würden wir das tun. Wir hätten auch keinen Mangel an Ideen, aber aufwendige Neustarts machen einfach keinen Sinn, solange die Werbekunden sich corona-bedingt so zurückhalten. Sobald der Markt anzieht, sind wir am Start. Bis dahin wird man ein Mehr an Wiederholungen im zweiten Halbjahr sehen. Es gibt wirtschaftliche Auswirkungen der Corona-Krise und wir wollen an den Informationsprogrammen und großen Unterhaltungsformaten festhalten. Deshalb nehmen wir an anderer Stelle bewusst Einsparungen vor und steuern gegen die Krise, auch wenn das Marktanteile kostet. So wie das Jahr 2020 insgesamt kein Jahr wird, in dem wir Marktanteilsrekorde erzielen werden, auch wenn wir bis zur Krise besser lagen als im Vorjahr. Festhalten kann man aber auch, dass unsere journalistische Gesamtreichweite nach Verschärfung der Corona-Maßnahmen auf täglich 30 Millionen Menschen im Schnitt über unsere Plattformen hinweg gestiegen ist.