Anke Schäferkordt und Guillaume de Posch neigen nicht zu überstürzten Entscheidungen. Die beiden CEOs der RTL Group sind als rational denkende Analytiker bekannt, die kaum vorschnell auf das erstbeste New-Media-Investment aufspringen würden. Umso mehr überraschten sie vor wenigen Wochen mit der Mehrheitsübernahme von SpotXchange, einem der großen US-amerikanischen Online-Marktplätze für Videowerbung. Mindestens 144 Millionen Dollar legt RTL für eine 65-Prozent-Beteiligung auf den Tisch. Bis Ende August soll die Transaktion durch sein.

Auf den ersten Blick ist der Neuerwerb schwer kompatibel mit dem Geschäft von Europas größter Sendergruppe. Auch auf den zweiten Blick ändert sich dieser Eindruck nicht. Die SpotXchange-Gründer Mike Shehan und Steve Swoboda haben sich seit 2010 von ihrem Firmensitz in Denver aus der automatisierten Vermittlung von Video-Ads verschrieben. Das sogenannte "Programmatic Buying", also der rein computergesteuerte Einkauf von Werbeflächen, hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Megatrend der Online-Werbung entwickelt. Über Börsen wie SpotXchange bieten Kunden - oder besser gesagt: deren Algorithmen - in Echtzeit um die gewünschten Plätze für ihre Werbemittel. Rund eine Milliarde solcher Auktionen wickelt SpotXchange im "Real-Time-Bidding" ab. Täglich.

Auch die RTL Group hat jeden Tag massenhaft mit der Auslieferung von Werbung on air und online zu tun. Aber wie passen die unterschiedlichen Positionen zusammen? Die konzerneigenen Vermarkter, hierzulande etwa IP Deutschland, betonen stets, wie einzigartig ihre jeweiligen Premium-Umfelder sind und welchen spezifischen Beitrag diese zur Werbewirkung liefern. Das Prinzip der Ad Exchanges beruht dagegen auf der Kumulation von Reichweiten in bestimmten Zielgruppen, wobei einzelne Umfelder weitgehend austauschbar sind. "Mit Realtime Advertising verschwinden die Zeiten, in denen versucht wurde, die Streuverluste zu minimieren, indem man Platzierungen und Umfelder als Garant für Zielgruppengenauigkeit verwendet", heißt es in einem aktuellen Diskussionspapier des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW).

Und weiter: "Dies gestaltet sich umso schwieriger, wenn Werbungtreibende an tradierten Logiken einer Umfeldplanung festhalten, Publisher weiter einen Markentransfer ihrer Umfelder auf die Marke des Werbetreibenden propagieren und Agenturen nicht in der Lage sind, die verfügbaren Profildaten in neue Planungslogiken zu übersetzen." Der Widerspruch zur bisherigen Praxis der RTL-Vermarkter ist unübersehbar. Das heißt nicht zwangsläufig, dass sich das Geschäftsmodell nicht in die Konzernlogik einpassen lässt - es macht die Sache freilich schwerer.

Hinzu kommt, dass der Einstieg bei SpotXchange zu einem kritischen Zeitpunkt erfolgt, wenn man sich den Marktzyklus der Video-Ad-Börsen genauer anschaut. Mit 2,7 Milliarden monatlichen Ad-Views ist SpotXchange "nur" die Nummer vier im US-Markt. Marktführer Adap.TV (3,3 Milliarden Views) wurde vor einem Jahr von AOL übernommen, der Zweitplatzierte LiveRail (3,1 Milliarden Views) vor wenigen Wochen von Facebook - beide für jeweils rund 400 Millionen Dollar. Die Nummer drei, DoubleClick by Google (3,0 Milliarden Views), gehört seit 2007 zum Suchmaschinen-Giganten. Das Marktumfeld ist also von aggressiver Konsolidierung bestimmt - und von mächtigen, finanzstarken Digital-Playern.

Würde RTL nun SpotXchange als künftige Haus-und-Hof-Infrastruktur seiner eigenen Plattformen integrieren, hieße das automatisch, dass sich der Marktplatz aus dem Wettkampf um weiteres Wachstum verabschieden müsste. Sobald der Konzern seine neue Tochter bei der Vermarktung des eigenen Videoinventars bevorzugt oder umgekehrt SpotXchange RTL-Umfelder stärker berücksichtigt als andere, ist es mit der bisherigen Neutralität dahin. Werbekunden würden sich fragen, ob die Algorithmen ihnen nicht vielleicht mehr RTL-Inventar zuschustern als objektiv nötig. Schon heute sehen große Kunden wie Procter & Gamble oder Unilever die starke Konzentration der Ad Exchanges so kritisch, dass sie stattdessen lieber ihre eigenen aufbauen.

Da die RTL Group den Löwenanteil ihrer Werbeerlöse noch immer aus dem klassischen TV bezieht, droht weiteres Ungemach von Seiten der großen Media-Agenturen. Auch die betreiben nämlich längst ihre eigenen Ad Exchanges. Als globale Konglomerate schrecken sie nicht davor zurück, ihre riesigen TV-Budgets als Druckmittel einzusetzen: TV-Konzerne, die ihr Digital-Portfolio nicht bereitwillig für die "Programmatic Buying"-Systeme der Agenturen öffnen, werden mit reduzierten Spendings in den klassischen Werbeblöcken abgestraft. Diese Schieflage könnte durch den ersten Marktplatz im Besitz eines TV-Konzerns sogar noch angestachelt werden.

Eine Menge offener Fragen also, die die Zukunft von SpotXchange innerhalb der RTL Group nicht gerade zum Selbstläufer machen. Selbst wenn es gelingt, die strategischen Klippen zu umschiffen, bleibt angesichts des harten Konkurrenzumfelds ein enormer Kapitalbedarf, um weiter zu wachsen und kein Opfer der Konsolidierung zu werden - mutmaßlich ein Mehrfaches des bisherigen Kaufpreises. Mit Venture-Capital-Investitionen in solchen Größenordnungen hatten sich RTL und seine Mutter Bertelsmann zuletzt eher zurückgehalten.

Ein Teil des Geldes könnte möglicherweise aus dem Verkauf des Minderheitsanteils an dem US-amerikanischen Multi-Channel-Network StyleHaul kommen, bei dem die RTL Group im Frühjahr 2013 eingestiegen war. Das US-Fachblatt "Variety" hatte vorige Woche berichtet, dass mit Amazon, 21st Century Fox, Hearst und Condé Nast gleich mehrere Interessenten für eine Übernahme des mädchenkompatiblen YouTube-Netzwerks parat stünden.

Hier hatte RTL durchaus einen guten Riecher: Mit 4.500 Kanälen, 175 Millionen Abonnenten und über 60 Millionen monatlichen Unique Viewern zählt StyleHaul inzwischen zu den größten MCNs weltweit. Allerdings stellt sich die Frage, ob ein Ausstieg in diesem Fall nicht verfrüht wäre. Immerhin entwickelt und produziert die RTL-Group-Tochter FremantleMedia gemeinsam mit StyleHaul eine Reihe fiktionaler und non-fiktionaler Formate, das Modell passt somit gut zum Kerngeschäft des Konzerns.

Deutlich beherzter bei Investitionen ins Digitalgeschäft agiert seit einigen Jahren ProSiebenSat.1. Manche Teile des breiten Portfolios von Gaming bis E-Commerce, das Digitalvorstand Christian Wegner zusammengekauft hat, können bereits mit ihrer operativen Performance überzeugen. Das gilt freilich nicht für Epic Companies, den Anfang 2013 in Berlin gestarteten Inkubator. Eigentlich sollten dort neue, Erfolg versprechende Start-ups in der Frühphase ausgebrütet werden, um so die Investments von SevenVentures in etwas reifere Unternehmen (Zalando, Parship, preis24.de) zu ergänzen.

Einige Millionen Euro hat sich die Münchner TV-Gruppe das Experiment bislang kosten lassen. Im Portfolio sind aktuell sieben Start-ups, darunter der Erotik-Shop Amorelie, der Luxusmode-Shop Department47, die Hotelsuche Discavo oder der Tierfutter-Shop Petobel. Abgesehen von Amorelie laufen die jungen Betriebe dem Vernehmen nach weitaus schlechter als prognostiziert. Im Frühjahr war das Epic-Team bereits verkleinert worden. Gründungsgeschäftsführer Mato Peric, den man bei Rocket Internet, der Holding der Samwer-Brüder, abgeworben hatte, hat Epic im Juli verlassen. Ende August folgen ihm laut ProSiebenSat.1 "aus persönlichen Gründen" Chief Operating Officer Adrian Frenzel und Chief Digital Officer Uli Erxleben.

Offiziell heißt es bei der Sendergruppe, man prüfe derzeit "verschiedene mögliche Szenarien" für Epic und die einzelnen Start-ups. Eigentlich ist das für erfahrene Inkubatoren im echten Silicon Valley nichts Ungewöhnliches. Das Scheitern neuer Ideen ist dort von vornherein mit einkalkuliert und gilt als Selbstverständlichkeit. Zwischen Berlin und Unterföhring zeigt sich gerade, dass das mit der Logik eines MDax-notierten TV-Konzerns - allem betonten New-Media-Geist zum Trotz - nicht wirklich kompatibel ist. Intern glauben einige, dass Epic zum Opfer unrealistischer Erwartungen geworden sei. Im Silicon Valley würde jetzt munter in die nächsten sieben Start-ups investiert, in Unterföhring sieht es wohl eher nicht danach aus.