In den vergangenen anderthalb Jahren haben Anbieter wie Amazon Prime Instant Video und Netflix doch weit mehr Aufmerksamkeit als sie verdienen - sagt Peter Fincham, Director of Television bei ITV. Im Rahmen der Leaders Debate beim Edinburgh International Television Festival platzte ihm der Kragen als wieder einmal Subscription-Video-on-Demand als Bedrohung für das lineare Programm zur Sprache kam. Damit ist er nicht allein in Edinburgh: Vertreter von Discovery, BBC, Sky, Channel 4, ABC und eben ITV artikulierten eine gemeinsame Haltung gegenüber dem neuen Wettbewerb um die Gunst der Zuschauer.

Anders als noch vor ein oder zwei Jahren als Netflix und Amazon von Vertretern linearer TV-Angebote meist mit der Arroganz von Marktkenntnis und langjähriger Erfahrung noch als experimentelle Nischenprodukte beurteilt wurde, sind es inzwischen respektvollere Töne. Immer wieder aber fallen beim internationalen Branchentreff in der schottischen Hauptstadt Aussagen aus der Kategorie „Ich habe ja nichts gegen Netflix/Amazon, aber…“. Das Muster dahinter: Durchaus nachvollziehbarer Frust über die unkritische Begeisterung für das Neue und einen zu pauschalen Abgesang auf ein immer noch stabiles lineares Geschäftsmodell.

Ich habe ja nichts gegen Netflix/Amazon, aber…
…wir sind doch eine Kreativ-Branche und keine von Algorithmen getriebene Industrie.

Stuart Murphy auf dem Edinburgh TV Festival© Edinburgh Television Festival/Greg McVean
Haben Netflix und Amazon wirklich einen Vorteil durch die Auswertung der Nutzung ihrer User? Beinahe jeder Artikel über die neuen Anbieter beurteilte in den vergangenen anderthalb Jahren diese Möglichkeit als einen der entscheidenden Vorteile der Online-Anbieter gegenüber dem linearen Fernsehen. In Bezug auf die Aussagekraft traditioneller Quotenmessung trifft dies sicherlich zu. Doch darum gehe es nicht, merkte Stuart Murphy, Director Entertainment Channels beim britischen Sky an. Genervt vom vermeintlichen Vorteil der Algorithmen von Netflix und Amazon gehörte ihm der meist umjubelte Satz der diesjährigen Leaders Debate: „We are in the imagination business, not the algorithm business.“ Die Zuschauer und selbst die Macher selbst wissen nicht immer, was sie eigentlich wollen. Gemeint ist: Vor „Breaking Bad“ hätten schließlich keine Daten darauf hinweisen können, dass jetzt mal so etwas wie „Breaking Bad“ produzieren sollte. Ideen lassen sich nicht berechnen.

Ich habe ja nichts gegen Netflix/Amazon, aber...
...auch andere Sender haben schöne Serien. Netflix/Amazon macht nichts, was wir nicht auch könnten.

Paul Lee auf dem Edinburgh Television Festival© Edinburgh Television Festival/Greg McVean
Dass Netflix beispielsweise mit "House of Cards" oder Amazon beispielsweise mit "Transparent" hochklassiges Fernsehen hervor gebracht hat, bestreitet niemand. Aber das haben andere ja schließlich auch. Sei es "Game of Thrones" im Pay-TV oder "Better Call Saul" im Basic Cable. Und auch die großen Networks können da mithalten, betont Paul Lee, President der ABC Entertainment Group. "American Crime" sei so ein Beispiel, das auch - bzw. gerade - bei Kritikern groes Lob einheimsen konnte. Denn gerade in den letzten Jahren hätten sich die Regeln, die manche Entscheider bei den Networks für in Stein gemeißelt hielten, verflüchtigt. Da galt es mal als gesetzt, dass Hauptfiguren uneingeschränkt sympathisch sein mussten. Heute steht eine komplexe Figur wie die von Viola Davis verkörperte Annalise Keating im Mittelpunkt einer der erfolgreichsten Serien. Und auch die Binsenweisheit, dass Folgen mit abgeschlossener Episodenhandlung massentauglicher seien als Serien mit fortlaufender Handlung, sei längst widerlegt.

Ich habe ja nichts gegen Netflix/Amazon, aber...
..."Binge Watching" ist weder für Anbieter noch Zuschauer auf Dauer sinnvoll.

Rich Ross auf dem Edinburgh Television Festival© Edinburgh Television Festival/Greg McVean
Netflix hat das Modell kultiviert, die gesamte Staffel einer Serie auf einen Schlag online zu stellen. Das ist für Zuschauer erstmal schön, müssen sie eine Serie doch nicht in der vorgeschriebenen Geschwindigkeit schauen. Doch Rich Ross, Group President des US-Discovery Channel, Animal Planet und Science Channel, hält das für eine kurzsichtige Denkweise. Wer gerade von den Serien, die er am meisten liebt, alle Folgen an wenigen Tagen sieht, muss genauso lang auf die nächste Staffel warten - hat aber nur wenige Tage Freude daran, statt mehrerer Wochen oder Monate. Dass man sich dann noch nicht mal mit anderen über die jeweils aktuelle Folge unterhalten kann, kommt noch hinzu. Und für Anbieter könne es doch auch kaum sinnvoll sein, enorme Summen in Inhalte zu investieren, die dann in wenigen Tagen "weggeguckt" würden statt über Monate als Aushängeschild fungieren zu können.

Ich habe ja nichts gegen Netflix/Amazon, aber…
…sie sind schon lange nicht mehr die sympathischen Underdogs in der Außenseiterrolle

Danny Cohen auf dem Edinburgh TV Festival© Edinburgh Television Festival/Greg McVean
In ihrer PR-Arbeit agieren Netflix als auch Amazon Prime Instant Video mit einer gehörigen Portion Understatement. Es gibt zahlreiche Interview-Aussagen und Keynotes, in denen sich die beiden Anbieter darüber amüsieren, dass die großen Medienhäuser und ihre linearen TV-Sender sich bedroht fühlen würden durch so junge Wettbewerber im TV-Geschäft wie eben Netflix und Amazon. Für Danny Cohen, Director of Television BBC, ist das ein falsches Spiel: Längst seien Netflix und Amazon nicht mehr die sympathischen kleinen Underdogs. Das weiß Cohen aus eigener Erfahrung: Mit der Möglichkeit selbst international auszuwerten, können die beiden Anbieter Summen bieten, bei denen kaum noch ein nationaler Sender mithalten könne. „Netflix“ hat der BBC eine Serie über das britische Königshaus weggeschnappt und Amazon für horrende Summen den alten „Top Gear“-Cast für sich gewonnen.

Ich habe ja nichts gegen Netflix/Amazon, aber…
…dem linearen Fernsehen werden Wiederholungen angekreidet, Netflix/Amazon sogar dafür bezahlt.

Jay Hunt auf dem Edinburgh TV Festival© Edinburgh Television Festival/Greg McVean
Im Zuge der Leaders Debate ging es u.a. auch um den oft erhobenen Vorwurf, Fernsehsender würden zu oft auf Wiederholungen setzen. Ein Vorwurf, den Jay Hunt nicht nachvollziehen kann. Sie ist Chief Creative Officer beim britischen Channel 4 und sieht hier eine Doppelmoral in der Bewertung von Programmqualität. Anbieter wie Amazon und Netflix füllen ihr Angebot zum überwiegenden Teil mit Wiederholungen von TV-Serien und Filmen, die für andere Sender oder das Kino produziert wurden. Sie werden dafür nicht kritisiert, sondern im Gegenteil gefeiert und vom Publikum bezahlt. Linearen und noch dazu kostenlos empfangbaren Sendern wiederum wurden Wiederholungen sehr lange vorgehalten. Immerhin habe sich das ein Stück weit geändert: „Repeats are no dirty word anymore.“

Ich habe ja nichts gegen Netflix/Amazon, aber…
…es gibt auch Fernsehserien, die für die lineare Ausstrahlung und gemeinsamen Konsum gedacht sind

Peter Fincham auf dem Edinburgh TV Festival© Edinburgh Television Festival/Greg McVean
Fernsehen wann immer und wo immer das Publikum will - mit diesem Argument gewinnen Netflix und Amazon viele Fans. Die Euphorie für diese neue Freiheit steigert sich jedoch oftmals auch in abfällige Kommentare gegenüber linearer Ausstrahlung um. Dahinter steckt die Argumentation, dass das eine die neue und das andere die alte Fernsehwelt steht. Peter Fincham, Director of Television bei ITV, sieht dies anhand eines konkreten Beispiels anders. Die Kultserie „Downton Abbey“ sei explizit für einen etablierten Sendeplatz produziert und jede neue Staffel jedes Jahr zur gleichen Jahreszeit wieder ins Programm genommen worden. Der Kult um die Serie habe auch viel mit diesen Riten zu tun. Mit Christmas-Specials habe es zusätzlichen Stoff für die Serienfans gegeben, der ebenfalls mit einem konkreten Ausstrahlungstermin und damit einer konkreten Stimmung des Publikums im Kopf produziert wurde. Das sei auch weiterhin eine Qualität und kein Auslaufmodell.