Gibt es in Zeiten von Netflix, Amazon und Co. noch echte Straßenfeger im linearen Fernsehen? In Großbritannien, einem Fernsehmarkt mit weniger Zuschauern als dem deutschen, erreicht die Back-Sendung „The Great British Bake Off“ seit Jahren immer neue Rekord-Reichweiten. Mitte Oktober gab es den jüngsten Rekord: Stolze 13,4 Millionen Zuschauer sahen das Finale der sechsten Staffel. Frei übertragen würde das in Deutschland etwa 16,8 Millionen Zuschauern entsprechen. Zahlen, von denen man bei Sat.1 nur träumen kann, auch wenn die deutsche Adaption „Das große Backen“ aus dem Hause Tower Productions, die am kommenden Sonntag ihr Staffelfinale feiert, sich inzwischen zum bemerkenswerten Erfolg gemausert hat. Ein Sechstel der Quote aus Großbritannien würde den Sender und Produzent dennoch bereits glücklich machen.

Fußball und der sonntägliche „Tatort“ erreichen ein Publikum von ähnlicher Größe, aber seit dem Abstieg von „Wetten, dass..?“ - einst viele Jahre lang Europas erfolgreichste Fernsehsendung - erreicht kaum noch ein TV-Format in Deutschland mehr als sechs oder sieben Millionen Zuschauer. Allein „Ich bin ein Star - Holt mich hier raus“ ist im Januar stets noch eine Ausnahmeerscheinung bei RTL. Aber an Reichweiten von mehr als zehn Millionen Zuschauer auch nur zu denken, wird heute in der deutschen Fernsebranche mit einem müden Lächeln quittiert. Man fragmentiert sich seit Jahren und feiert bei seinen Spartensendern durchaus auch beachtliche Erfolge.

Warum gelingt mit „The Great British Bake Off“ in Großbritannien, was bei uns unmöglich scheint? Wir haben uns auf Spurensuche begeben und wollen das TV-Phänomen des Jahres verstehen. Früher wäre die Antwort möglicherweise einfacher ausgefallen: Es liege allein an den strukturellen Unterschieden zwischen dem deutschen und britischen Fernsehmarkt. Doch diese Unterschiede schwinden. Gab es in Großbritannien früher nur eine sehr begrenzte Auswahl frei empfangbarer Kanäle und ein dafür weitaus dominierenderes Bezahlangebot von Sky, so hat das frei empfangbare Fernsehen (Freeview) auf der Insel in den vergangenen Jahren eine mit dem deutschen Free-TV vergleichbare Programm-Vielfalt entwickelt.

The Great British Bake Off© BBC
Die Kandidatinnen und Kandidaten der 6. Staffel sowie die beiden Juroren Paul Hollywood und Mary Berry (außen) und das Moderationsduo Sue Perkins und Mel Giedroyc (mittig)

Allein beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt es weiterhin deutliche Unterschiede, die durchaus ein Stück weit die enorme Reichweite der Backshow bei BBC One erklären. Anders als die ARD ist die BBC weit weniger föderal aufgestellt. Regionale Sender wie die Dritten bei der ARD, die alle auch noch national im Wettbewerb um die Zuschauergunst stehen, gibt es nicht. Einen  öffentlich-rechtlichen Konkurrenten wie das ZDF ebenso wenig. Aber allein das erklärt nicht das Phänomen „The Great British Bake Off“, das inzwischen selbst dem in Großbritannien sonst noch so starken „X Factor“ längst mit Leichtigkeit die Rücklichter zeigt.

Jesse Whittock© Jesse Whittock
„Ich glaube, dass das britische Publikum diese aggressive Art von Shows wie ‚X Factor‘ ein Stück weit leid ist und nach sympathischerer Unterhaltung sucht“, sagt Jesse Whittock (Foto), Redakteur beim Branchendienst Television Business International in London. Das Moderationsduo Sue Perkins und Mel Giedroyc trage darüber hinaus viel zur besonderen Atmosphäre der Show bei. Das wissen allerdings auch Perkins und Giedroyc sehr gut, ergänzt TBI-Kollege Whittock mit Blick auf die Verhandlungen mit der BBC über die nächste Staffel.

Oliver Heidemann© ZDF
Nach Jahren der Eskalation in der TV-Unterhaltung bedient eine harmlose Backshow offenbar die Sehnsucht des Publikums nach einer weniger künstlichen Welt. Statt meist nicht haltbarer Karriereversprechen für Möchtegern-Stars stehen hier Menschen im Mittelpunkt, die sich für die Teilnahme an der Sendung nicht schämen müssen. Auch Oliver Heidemann (Foto), Leiter der ZDF-Hauptredaktion Show, betont die Herzlichkeit des Formats. „Das Finale und hier natürlich besonders die Gewinnerin, die 30 Jahre alte Muslima Nadiya Jamir Hussain, haben die Zuschauer tief berührt – die Show war witzig, emotional und erreichte eine ungeahnte gesellschaftspolitische Relevanz“, sagt er auf Anfrage des Medienmagazins DWDL.de

Kaspar Pflüger© Sat.1
Die Sendung bedient damit aber nicht nur den Wunsch nach einer verständnisvolleren, wärmeren Tonalität - sagt zumindest der neue Sat.1-Geschäftsführer Kaspar Pflüger. „Den Briten ist es im Fall von ‚The Great British Bake Off‘ vor allem gelungen, Backen zu etwas ‚quintessentially british‘ zu machen. Es zahlt damit sehr auf das traditionelle, positive Gefühl ‚proud to be british‘ zu sein, ein“, so Pflüger (Foto). „Diese Identitätsstiftung schafft bei uns in Deutschland in ähnlicher Form eigentlich nur ein Event: Live-Fußball.“ Und eben „Tatort“ oder Eurovision Song Contest - darauf legt man bei der ARD wert als wir uns auch dort zum Thema umgehört haben.

Eine sympathischere Tonalität, eine Kultivierung der eigenen Identität und ein deutlich weniger förderaler öffentlich-rechtlicher Rundfunk sind drei wichtige Eckpfeiler dieses enormen Erfolges von „The Great British Back Off“. Es gibt aber noch zwei weitere Gründe. „Die Zuschauer sind auf Augenhöhe mit den Teilnehmern der Sendung“, erklärte Suzanne Kendrick, Head of Formats Sales bei BBC Worldwide, bei einem Treffen in Liverpool. Das klingt wie eine Plattitüde, aber entpuppt sich als ganz wesentlicher Aspekt: Das Fernsehpublikum soll sich den Protagonisten der Sendung nicht überlegen fühlen. Sendungen wie „Schwiegertochter gesucht“ oder aber inzwischen auch Castingshows mit absurden Kandidatäten bedienen den niederen Instinkt, dem Publikum etwas zu geben, worüber er sich erheben kann.

Doch auch „The Great British Bake Off“ war nicht von Anfang an ein Hit - und das führt zum letzten wichtigen Eckpfeiler dieses heutigen Erfolges. Die Back-Sendung ist vor fünf Jahren ohne hohen Erwartungsdruck zunächst beim weitaus kleineren BBC Two (Marktanteil des Senders im September 2015: 5,0 Prozent) gestartet und erst mit der fünften Staffel im vergangenen Jahr zum großen Bruder BBC One (Marktanteil: 21,5 Prozent) umgezogen. Eine Entwicklungstaktik, die die BBC auch bereits bei den Formaten „The Apprentice“ und „Dragon’s Den“, der UK-Version der „Höhle der Löwen“, erfolgreich verfolgt hat.

Bake-Off Zuschauerentwicklung© DWDL

Die Quotenentwicklung von "The Great British Bake Off" bei BBC Two (ab 2014: BBC One)


In Deutschland gibt es vergleichbare Wanderbewegungen von TV-Formaten nur innerhalb der ARD zu beobachten, wo erfolgreiche Sendungen aus den Dritten ggf. den Sprung ins Erste schaffen. Eigentlich war es auch beim Sendestart von ZDFneo erklärtes Ziel, genau so ein Sprungbrett für Programmideen zu werden. Die von ZDFneo zum ZDF kommenden Impulse sind aber bislang äußerst zaghaft. Bei der Mediengruppe RTL Deutschland sowie ProSiebenSat.1 TV Deutschland sorgen wiederum die unterschiedlichen Positionierungen der Sender dafür, dass eine solche Formatwanderung nur äußerst selten vorkommt. Schwer in Mode sind nur Abwärtswanderungen von Formaten der großen Kanäle, die statt einer Absetzung auf kleineren Schwestersendern zu einem Ende geführt werden.