Es war ein Bild für die Götter. Liv Tyler verließ - in ungleich aufwändigeren Outfit als zwei deutsche Journalisten - zeitgleich mit uns das für die Aftershowparty provisorisch errichtete Zelt, um die Toiletten zu suchen. Wir folgten der Beschilderung auf dem Parkplatz neben dem Barker Hangar am Rande des kleinen Flughafens von Santa Monica - und bogen um die Ecke: Da standen sie und das im doppelten Sinne. Die prominenten Gäste der 21. Critics’ Choice Awards warteten vor zwei Toiletten-Wagen, wie sie auch der jährlichen Kirmes in Wanne-Eickel hinterm Bierzelt alle Ehre machen würden. Der Gesichtsausdruck von Liv Tyler, der diese Entdeckung quittierte, war preiswürdig. Mein Kollege Matthias Müller kriegte sich vor Lachen kaum noch ein. Wir hatten Spaß bei den Critics’ Choice Awards - und waren damit nicht allein.

Der Wert einer Preisverleihung ergibt sich schließlich zunächst einmal nicht aus ihrer Inszenierung. Das ist einer dieser furchtbaren Irrtümer, denen in Deutschland beispielsweise Goldene Kamera und Bambi erliegen. Beides Preise, die durch völlig absurde Auszeichnungen und Gelegenheitspreise jegliche Relevanz und Ernsthaftigkeit schon lange verloren haben. Das interessiert die Branche allerdings wenig, solange man zweimal im Jahr schön feiern kann. Der Rahmen zählt hier mehr als Inhalt. Da sag nochmal einer, in den USA sei alles nur für die Show. Das schlägt sich auch nieder in der Berichterstattung: Der rote Teppich nimmt bei uns weit mehr Raum ein als die Gewinner. Man mag es kaum glauben: In den USA steht dem Zirkus um den roten Teppich immerhin eine genauso große Ernsthaftigkeit der Preise gegenüber.

Bei den in der Nacht zu Montag deutscher Zeit verliehenen Critics’ Choice Awards ging es weniger um die Show als die Auszeichnung jener Produktionen und Akteure, die aus Sicht der US-amerikanischen Film- und Fernsehkritiker Herausragendes geleistet haben. Ist das relevant? Ist wichtig, was Kritiker denken? Sicherlich wird darüber gerade bei schlechten Kritiken leidenschaftlich debattiert. Welchen Wert jedoch ein Kritiker-Urteil und damit letztlich auch die Critics’ Choice Awards haben, brachte Sam Esmail, Erfinder und Executive Producer der ausgezeichneten Serie „Mr. Robot“, in seiner Dankesrede beispielhaft auf den Punkt. In einer Medienwelt mit immer mehr Angeboten hätten die Kritiker dafür gesorgt, dass eine ungewöhnliche Serie wie „Mr. Robot“ auf einem kleinen US-Kabelsender nicht übersehen wurde.

Dass in der Königskategorie des besten Films statt einem Blockbuster das Missbrauchsdrama „Spotlight“ gewonnen hat, passt auch zu dieser Erdung des Preises. So ein innerer Kompass fehlt vielen Preisverleihungen. Anders als bei den Golden Globes scherzt niemand, dass Nominierungen und Preisentscheidungen sich an dem Wunsch orientieren, die Stars zur Verleihung zu locken, um ein Selfie abzustauben. Im Marketing ist die Verleihung der Auslandspresse in den vergangenen Jahren aber zweifelsohne weitaus erfolgreicher gewesen als der Preis der US-Kritiker. Daran könnte sich dank neuer Partner ändern: Die in diesem Jahr übertragenden Kabel-Sender A&E und Lifetime mühten sich sichtlich, den Critics’ Choice Awards einen Rahmen zu geben, der sich mit den Awardshows der Networks - den Oscars, Globes und Emmys - messen kann. Das gelang mal mehr, mal weniger.



Ein Tiefpunkt war leider die Moderation. Schauspieler und Comedian T.J. Miller („Silicon Valley“) hatte es nicht so mit dem Timing - und mit Humor im Allgemeinen. Das ist natürlich bitter, wo es doch schließlich meist der Eröffnungsmonolog von Preisverleihungen ist, der uns Zuschauer so begeistert. Wenn beispielsweise Ricky Gervais der Branche so herrlich böse die Leviten liest und damit den Live-Moment einer Preisverleihung nutzt, um Unberechenbarkeit zu liefern. Auf solche Ausbrüche hoffen wir - seien es persönliche, emotionale, politische oder eben einfach nur bitterböse. Manche, aber längst nicht jede Dankesrede, gehört ebenfalls zu solchen unvergesslichen Live-Momenten. Bei den Critics’ Choice Awards gehörte die Dankesrede von Schauspielerin und Comedian Amy Schumer zu diesen Highlights.

Wenn in Deutschland die Hoffnung formuliert wird, doch nur einmal eine Verleihung zu erleben, wie wir sie aus den USA kennen würden - dann ist meistens genau diese unschlagbare Kombination gemeint: Gekonnter Witz und unberechenbare Live-Momente. Was bei der Verklärung amerikanischer Preisverleihungen meist unter den Tisch fällt: Die Kategorien-Orgie selbst ist auch hier eher ermüdend. Wer denkt, dass dieser Eindruck hauptsächlich deshalb entstehe, weil wir in Deutschland durch die Zeitverschiebung zur US-Westküste stets mitten in der Nacht ohnehin mit der Müdigkeit kämpfen, dem sei gesagt: Auch vor Ort ist die Begeisterung für die immer gleiche Abfolge mitunter mehr Pflichtaufgabe als Vergnügen. Das stört aber nicht, wenn ein Preis Relevanz besitzt.

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Die muss man sich erarbeiten. Sie lässt sich nicht inszenieren und steuern. Wenn uns also Preisverleihungen aus den USA eine Lehre sein könnten, dann ist es nicht die große Show. Die ist gar nicht so groß, wie wir sie aus der Ferne machen. Wir verklären einzelne Ausschnitte und Momente zum großen Ganzen, dabei kocht auch Hollywood nur mit Wasser. Aber man tut das immerhin live. Für die Idee, einen Fernsehpreis nirgends zu übertragen, braucht es schon die vereinte Überzeugung der vier größten deutschen Fernsehsender. Darauf würde in den USA niemand kommen. Zwei Dinge könnten wir lernen von den US-Verleihungen: Die Magie des Live-Moments und die Pflege eines inneren Kompasses. Besitzt ein Preis diese klare Verortung, dann lässt sich bei der Inszenierung ein Auge zudrücken. Der Grimme-Preis kennt das.

Das mit dem Live-Moment klappte beim Deutschen Fernsehpreis 2016 noch nicht. Es gab verständlicherweise viel Hohn und Spott für einen Fernsehpreis, der nirgendwo zu sehen ist. Dabei wäre die Show mit Barbara Schöneberger durchaus einen Livestream oder TV-Ausstrahlung wert gewesen. Da muss es 2017 eine bessere Lösung geben. Tröstlich aber ist, dass der Deutsche Fernsehpreis mit seinen Nominierungen und Gewinnern in diesem Jahr gemessen an öffentlich geäußerter Kritik keine destruktive Grundsatzdebatte über den Qualitätsbegriff im deutschen Fernsehen auslöste, wie in den Vorjahren so oft. Als Mitglied der diesjährigen Jury freut mich das. Ein wertvoller Anfang wäre damit getan. Ach, und sauberere Toiletten als Hollywood hatte man auch schon. Liv Tyler hätte das gefallen.

Übrigens: Eine Wiederholung der Critics' Choice Awards läuft übrigens am 21. Februar (ja, nicht Januar) beim Pay-TV-Sender A&E. Für Amy Schumer allein lohnt es sich.