Kleider machen Leute - dieses Sprichwort stammt aus einer analogen Vergangenheit, in der noch mit Federkielen auf einer seltsamen Substanz namens Papier geschrieben wurde. Angewandt auf unsere digitale Gegenwart, muss man das Bonmot jedoch dringend erweitern. Kleider machen zwar immer noch Leute; viele davon halten sich allerdings vorwiegend in Gebäuden auf, die Medien machen. Da ist es kein Zufall, dass ein Nachrichtenformat der tendenziell analogen ARD sein modernstes Tool in einer Kreativ-Werkstatt der Generation Startup vorstellt. Dort also, wo Leute mit zu großen Bärten oder Brillen zwischen Gesicht und Laptop bei zeitgemäßen Limo- oder Kaffeevariationen an der digitalen Zukunft basteln.

Sechs Jahre nach ihrem Start, erfährt die Tagesschau-App, wie Online-Chefin Christiane Krogmann im betahaus genannten Kreativpool am Rande des hippen Hamburger Schanzenviertels sagt, "ihren ersten echten Relaunch". Zumindest optisch. Denn Deutschlands bedeutendste Informationssendung im Fernsehen verändert seine mobile Darreichungsform auf Smartphone und Tablet. Das Angebot wird nicht nur visueller, also jugendaffiner; bewegte Bilder erscheinen vertikal, statt horizontal. Anders ausgedrückt: die Tagesschau-App startet hochkant und wird aktuellen Sehgewohnheiten damit angeblich gerechter, die das dauernde Kippen des Bildschirms überdrüssig sind.

Diese Art vertical videos, behauptet Krogmanns Redaktion, sei für ein News-Angebot weltweit einmalig. Und sie begleite eine Umgestaltung, noch so ein Lob in eigener Sache, die den digitalen Content der Marke laut Strategie-Chef Andreas Lützkendorf "auf eine völlig neue Stufe hebt". Das Navigieren erfolgt nämlich fortan je nach Vorliebe chronologisch oder personifiziert, also entweder vom Anbieter oder Abnehmer kuratiert. Zudem kommt man mit ein paar Wischs zum Angebot der bevorzugten Landesrundfunkanstalt und kann das zuvor Gesehene regional vertiefen. Weil tagesschau.de "nun in einem workflow" mit der App verbunden sei, wie es Christiane Krogmann popmodern ausdrückt, "rücken on- und offline noch dichter zusammen".

Tagesschau-App 2.0© ARD
Das ist für die App-User nach all den Jahren erst mal vor allem eines: Ungewöhnlich. Sich einzeln durch die jeweils im Vollbild dargestellten Themen wischen zu müssen, mag womöglich modern sein – vor allem aber wirkt es zunächst arg oberflächlich. Hinzu kommt, dass in vielen der im Hintergrund laufenden Videos bislang gerne mal ein lautes Rauschen zu vernehmen ist – das geht ganz sicher besser. Dass diese Art von Kurznachrichten derart prominent ins Zentrum gestellt werden und die vertiefenden Artikel in den Hintergrund rücken, will zumindest auf den ersten Blick nicht so recht zur staatstragenden "Tagesschau" passen, die sich im Netz offensichtlich jetzt andere Regeln auferlegt hat. Wer auch weiterhin den klassischen Überblick mit Überschrift und Teasern haben will, muss erst mal suchen.

Vieles in der App ist jetzt schneller, bunter, mobiler. All die Änderungen sind jedoch vornehmlich optischer Natur, also oberflächlich. Und das passt leider bestens zur Epoche radikaler Veränderungen der Medienlandschaft, die Wesenskerne zusehends hinterm Hochglanz effekthaschender Fassaden versteckt. Dennoch ist die Sache hier ein bisschen komplizierter als bei den Privaten, wo die Visualität naturgemäß im Vordergrund steht. Dass die Hauptnachrichten des Ersten Programms nebst Spin-Offs von Tagesthemen bis Tagesschau24 zum Gehaltvollsten zählt, was Informationsmedien hierzulande, ja weltweit zu bieten haben, bestreiten schließlich nur die allerdumpfsten der Lügenpresse-Krakeeler auf Dresdens Straßen oder sonstwo. Dafür spricht bereits, dass ARD-aktuell mit seinen rund 240 Mitarbeitern am Standort Hamburg nebst Korrespondenten in aller Welt zuletzt mit dem Premiumprodukt um 20 Uhr allein auf dem guten alten Fernseher durchschnittlich fast zehn Millionen Zuschauer erreicht hat. So viel wie seit zehn Jahren nicht.

Regionale Erweiterung der "Tagesschau"-App

Umso argwöhnischer sehen es Verlage anderer Verbreitungswege, insbesondere der gedruckten Presse, wenn ein öffentlich-rechtliches Format wie die "Tagesschau" plötzlich "Tageszeitung" spielt und den Mitbewerbern auf wesensfremden Kanälen gebührenfinanziert Konkurrenz macht. Zurzeit wird ihre Klage, ob die App nun presseähnlich ist oder nicht, in Revision vorm OLG Köln verhandelt. Ausgang offen. Zwei Dinge stehen allerdings auch ohne rechtskräftiges Urteil außer Frage: Der gesetzlich vorgeschriebene TV-Bezug des mobilen Angebots ist schon dank des verwendeten Layouts unverkennbar und damit kaum anzufechten. Die Online-Redaktion kann dabei jedoch noch so sehr beteuern, die Substanz des Fernsehens nur zu vertiefen, statt eigene zu erstellen: Umfang, Güte und Vielfalt des Gezeigten erreichen auch für Mobilgeräte längst einen Grad, der jedes Nachrichtenmagazin spielend ersetzen könnte. Und auch die chronisch kränkelnden Lokalblätter werden sich bei Christiane Krogmann herzlich bedanken, dass die "Tagesschau"-App nun regional erweitert wird.

Das erklärt etwas besser, warum der Relaunch vor allem optischer Natur ist und doch – moderiert von "Tagesschau"-Sprecher Jens Riewa – mit einem PR-Aufwand im Hipsterumfeld propagiert wird, als wäre alles neu an der App. In der postfaktischen Gesellschaft, die den Wahrheitsgehalt einer Meldung weniger am Text als am Tonfall bemisst, ist schon die Tatsache, dass Qualitätsmedien zeitgemäßer werden, eine gute Nachricht, auch wenn sich freilich erst noch zeigen muss, ob sich die zahlreichen Nutzer wirklich anfreunden können mit der neuen Snapchat-Optik, die vielleicht den Zeitgeist der jungen Generation trifft, gleichzeitig aber allemal das Zeug dazu hat, die Stammuser zu verwirren. Dennoch gilt: Je mehr Menschen dank einer besser strukturierten, spannender gestalteten, visuell aufgemotzten Oberfläche Zugang zur seriöser Informationspolitik erhalten, desto größer wird auch die Akzeptanz für andere Medien mit Niveau. Am Ende machen Leute ja nicht nur Medien, Medien machen auch Leute.