Eine Geschichte, die Rochelle King, Vice President Creative Production bei Netflix, gern zum Besten gibt, handelt von der spanischen Serie "Élite", einem populären Schuldrama rund um Klassenkonflikte unter Teenagern aus reichen und armen Familien. Zwei von Kings Mitarbeitern, die dafür zuständig sind, fertige Produktionen zu analysieren und mit passenden Tags zur besseren Auffindbarkeit auf der Plattform zu versehen, war bei Twitter aufgefallen, dass eine schwule Liebesbeziehung aus der Serie für Furore in der LGBTQ-Community sorgte. 

"Die beiden hatten das zuvor nicht gesondert aufgegriffen", so King. "Also haben sie sich noch einmal an 'Élite' gesetzt und die Serie neu vertaggt, um die entsprechende Storyline stärker zu betonen und ihr damit mehr Aufmerksamkeit in der Community zu verschaffen." Nutzer, die vom Netflix-Algorithmus als besonders interessiert an LGBTQ-Stoffen eingestuft wurden, bekamen "Élite" fortan mit einem Thumbnail angepriesen, das Ander und Omar, das schwule Paar, zeigte. Der weltweite Fankreis der Serie wuchs daraufhin kräftig weiter.

Die Anekdote ist nur eines von etlichen Beispielen auf und hinter dem Bildschirm, die zeigen, wie Streaming-Plattformen für Zuschauer hierzulande zum Vorreiter in Sachen Diversität geworden sind. Allen voran Netflix hat als US-Unternehmen, das in 190 Ländern der Welt Abos verkaufen will, das enorme Marktpotenzial von Diversität erkannt. Diverse Hautfarben, Sexualitäten und Lebensentwürfe – und zwar innerhalb ein und derselben Serie – scheinen mittlerweile schon fast zum Grundrauschen zu gehören. Das gilt sowohl für das internationale Angebot von "Sex Education" bis "When They See Us" als auch für deutsche Originals von "How to Sell Drugs Online (Fast)" bis "Wir sind die Welle", in denen migrantische Herkunft, gleichgeschlechtliche Liebe oder Behinderung recht selbstverständlich miterzählt statt problematisiert werden. Ganz anders als im überwiegenden Teil der Primetime deutscher TV-Sender, wo solche Aspekte im Vergleich zum wahren Leben selten vorkommen – oder wenn, dann oft nur als Auslöser eines Problems.

"Man merkt immer wieder, dass Menschen mit Migrationshintergrund von den amerkanischen Playern viel selbstverständlicher in Hauptrollen besetzt werden", sagte Malte Can, Produzent bei Geißendörfer Film, kürzlich in der aufschlussreichen 3sat-Doku "Kino Kanak". Er finde es "eine Art von Befreiung", wenn man nicht mehr nur auf "veraltete, verkrustete Stereotypen" wie den türkischen Gemüsehändler oder den iranischen Taxifahrer beschränkt sei. Woran es bei ARD, ZDF sowie im privaten Free-TV noch hapert, versuchte Schauspieler und Produzent Tyron Ricketts im selben Film so zu erklären: "Da merke ich, dass in den Gesichtern viel Ratlosigkeit ist. Man weiß, man müsste eigentlich anders erzählen, auch um konkurrenzfähig zu bleiben. Aber man weiß nicht wirklich wie."

Als das Medienmagazin DWDL.de Anfang Februar über die geplante Kooperation zwischen Ricketts' Produktionsfirma Panthertainment und der UFA Fiction zur Realisierung von Projekten von und mit People of Color berichtete, löste die Nachricht eine Menge Jubel in der Branche aus. Die Euphorie, mit der zahlreiche Kreative sie in den sozialen Medien teilten, lässt darauf schließen, dass viele willens und bereit sind, den Rückstand auf die US-amerikanischen Vorbilder in Sachen fiktionale Repräsentation aufzuholen. Man muss nicht gleich zum großen Hollywood-Kino à la "Black Panther" oder "Crazy Rich Asians" greifen, um die Selbstverständlichkeit zu spüren, mit der US-Serien heutzutage Vielfalt abbilden. 

Marvel's Runaways© Hulu
Die Teenager-Superhelden-Serie "Marvel's Runaways" etwa, die drei Staffeln lang bei Hulu lief (letzte Staffel in Deutschland ab 29. April bei Syfy), wurde nicht nur deshalb zum Hit im jungen Publikum, weil darin Jugendliche die kriminelle Organisation ihrer Eltern bekämpfen. Auch wie sich die Sechsergruppe zusammensetzt und wie sie erzählt wird, spielt eine wesentliche Rolle: vier Mädchen, zwei Jungen; davon zwei Latinas, ein Schwarzer, eine Asiatin; oft sind die Frauenfiguren stärker und entschlossener, während die Männer auch gefühlvoll und verletztlich sein dürfen; lesbische Liebe oder psychische Angststörung werden eher nebenbei erzählt und tun der Superheldinnen-Power keinerlei Abbruch. Die US-Netflix-Comedy "Atypical" wiederum dient als Musterbeispiel dafür, wie man das Erwachsenwerden junger Autisten authentisch erzählen und gleichzeitig sehr viel Spaß verbreiten kann. Derzeit entsteht die vierte und letzte Staffel von Robia Rashids Geschichte des jungen Sam, der sich nach und nach von seiner Familie emanzipiert, dabei Erfahrungen mit Liebe, Freundschaft und dem College-Alltag sammelt.

"Ich hab's satt, über Diversity zu reden"

Kenya Barris, Creator & Showrunner "black-ish"

 

Einer der spannendsten, weil zugleich mainstreamigsten Köpfe ist Multi-Showrunner Kenya Barris, der den Disney-Sendern ABC und Freeform die Sitcom-Erfolge "black-ish", "grown-ish" und "mixed-ish" beschert hat. Markenzeichen dieses Franchise ist es, Klischees und Vorurteile pointensicher gegen den Strich zu bürsten – gelegentlich mit sarkastischer Härte, aber letztlich immer familientauglich. Barris, der schon 2016 zu Protokoll gab: "Ich hab's satt, über Diversity zu reden", hat Stars wie Anthony Anderson, Tracee Ellis Ross oder Tika Sumpter vielschichtige Rollen auf den Leib geschrieben, die mit nervigen Merkmalen von Alltagsrassismus ebenso konfrontiert sind wie mit Erziehungs- oder Pubertätsproblemen. Vermittelt wird das Bild einer durchschnittlich chaotisch-liebenswerten Familie, ohne die spezifischen, mit der Hautfarbe verbundenen Erfahrungen zu verwässern.

mixed-ish© ABC
Kaum eine Serie hat wohl jemals so plakativ-humorvoll wie "mixed-ish" davon erzählt, wie es für Kinder mit schwarzer Mutter und weißem Vater war, im Amerika der 80er Jahre aufzuwachsen. Dennoch stehen universelle Konflikte und Werte wie Rebellion gegen die Eltern, das Aushandeln von Regeln oder die Pflege von Vertrauen und Souveränität mindestens genauso im Zentrum. Wer die Kunst der Mischung so gefühlvoll und unterhaltsam hinbekommt wie Barris, trägt gewaltig zur Schaffung integrativer, inklusiver Narrative bei.

Was bereits erreicht wurde und was noch zu tun ist, lässt sich im US-Markt vergleichsweise genau quantifizieren. Laut dem jährlich erscheinenden "Hollywood Diversity Report" der University of California, Los Angeles (UCLA) hat sich der Anteil ethnischer Minderheiten an den Filmhauptrollen von 10,5 Prozent im Jahr 2011 auf 27,6 Prozent in 2019 gesteigert. Der Anteil weiblicher Hauptrollen stieg im selben Zeitraum von 25,6 auf 44,1 Prozent. Und laut einer Studie der Ruderman Family Foundation enthielt rund die Hälfte von 280 untersuchten TV- und Streaming-Serien aus dem Jahr 2018 mindestens eine Figur mit körperlicher, kognitiver oder psychischer Behinderung.

Vergleichbare Zahlen gibt es für den deutschen Markt kaum, schon gar nicht auf regelmäßiger Basis. Entsprechend schlug 2017 die von Maria und Elisabeth Furtwängler initiierte Studie der Uni Rostock zu Geschlechterdarstellungen im deutschen Film und Fernsehen ein. Demnach waren 38 Prozent der Hauptfiguren in Serien weiblich; in Kinofilmen waren es 42 Prozent, in TV-Movies 44 Prozent, im Kinderfernsehen gar nur 28 Prozent. Dass die deutsche Fiction jedenfalls nicht entfernt den realen Gesellschaftsanteil von rund einem Viertel in Deutschland lebender Menschen mit Migrationshintergrund widerspiegelt, kann jeder halbwegs aufmerksame Zuschauer empirisch feststellen.

Nataly Kudiabor© Good Friends
Jenseits der Zahlen steht eine unschöne Wahrnehmung: "Als schwarzer Deutscher beispielsweise sieht man andere Schwarze on screen meist als Asylanten, Drogendealer oder Prostitutierte, die zum Teil gebrochen Deutsch sprechen müssen", sagt Nataly Kudiabor (Foto), Produzentin bei der UFA Fiction. "Im non-fiktionalen Programm sieht es diverser aus, was viel mehr unsere reale junge Gesellschaft abbildet. Die jungen Deutschen, die sich bei einer Casting-Show melden, sehen eben nicht mehr nur aus wie Sabine Meier und Peter Müller. Da gibt es Vielfalt und ein gutes Miteinander. Aber diese Vielfalt findet keine ausreichende Abbildung im fiktionalen Programm. Zusätzlich gibt es wenige Geschichten, die People of Color als Protagonisten mit einer eigenen Storyline zeigen. Geschweige denn, dass diese Geschichten von ihnen selbst geschrieben oder inszeniert werden."

"Netflix kennt die Innovationskraft von Menschen, die bisher nur vom Rand aus zuschauen durften"

Julia von Heinz, Regisseurin und Drehbuchautorin


Warum es für Netflix & Co. strategisch Sinn macht, progressiver vorzugehen, hat Regisseurin Julia von Heinz in ihrer viel beachteten Dankesrede beim FernsehfilmFestival Baden-Baden im November 2019 erläutert: "Die Streamer binden mit jeder neuen Serie neue junge Zuschauer und Gruppen an sich, die sich in den einheitlichen Perspektiven, die ihnen in ARD und ZDF geboten werden, nicht mehr wiederfinden. Netflix hat Diversität und Gleichstellung als Kriterium definiert. Warum? Das ist nicht nur eine Frage der political correctness, sondern auch eine wirtschaftliche Frage. Der Konzern weiß, dass durch die Öffnung zu neuen Bilderwelten mehr und jüngeres Publikum angesprochen werden kann. Weil sie die Innovationskraft kennen von Menschen, die bisher nur vom Rand aus zuschauen durften." Wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk jungen Leuten nicht ebenfalls die Möglichkeit gebe, sich und ihre Perspektive auf die Welt im Programm wiederzufinden, trage er sich selbst zu Grabe.

Netflix-Tag © Netflix
Selbst jene Anbieter, die gegenwärtig fortschrittlicher erscheinen, können sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen. So dynamisch, wie sich die Gesellschaft insgesamt weiterentwickelt, ändern sich auch Wahrnehmungen und Ansprüche der Fiction-Konsumenten. Das weiß Netflix-Managerin Rochelle King nur zu gut. Ihre Plattform arbeitete jahrelang mit der Kategorie "strong female lead". Nach dieser Systematik wurden Komödien oder Thriller "mit starker weiblicher Hauptfigur" vertaggt. Netflix durfte sich eine Weile feiern lassen für das gezielte Sichtbarmachen von fiktionalen Heldinnen.

Doch das hat sich in jüngster Vergangenheit gedreht: "Wir bekamen immer öfter das Feedback, 'strong female lead' fühle sich überholt an", so King. "Wenn man 'weiblich' als Schlagwort benutzt, heißt das ja, dass man es für betonenswert hält, dass man also etwas beschreibt, wo man normalerweise keine Frau erwarten würde. Weil wir sorgsam mit unserer Wortwahl umgehen möchten, haben wir das System umgestellt: Statt 'comedy with a strong female lead' sagen wir jetzt 'women who make us laugh'." Dass auch vermeintliche Kleinigkeiten eine Haltung offenbaren können, möchte man all jenen zurufen, die auf deutschen Redaktionsfluren gerade in einer Fülle von Starke-Frauen-Pitches brüten.

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