Was wollen die Fernsehzuschauer sehen? SInd sie mit klassischen Fernsehshows oder echten Talenten überhaupt noch zu begeistern? Geht nichts mehr ohne Häme und Spott? Die in den vergangenen Jahren spübar rückläufigen Quoten bei "Wetten, dass..?" standen jedenfalls im Kontrast zu jenen der RTL-Shows "Das Supertalent" oder "Deutschland sucht den Superstar" - doch der Erfolg der Castingshows des Kölner Platzhirsches ließ sich nicht zuletzt auf die bis ins kleinste Detail geplanten Inszenierungen zurückführen. Wer bei "DSDS" vor Dieter Bohlen tritt, kann sich inzwischen nicht mehr sicher sein, wie sein Auftritt im Fernsehen letztlich wirkt. Da kann es schon mal vorkommen, dass ein ganz anderes Jury-Urteil an den eigentlichen Auftritt geschnitten wird.

Bei der "Supertalent"-Suche wurde diese Inszenierung in den vergangenen Jahren perfektioniert: Hier bricht das Publikum in Jubel und Tränen aus - oder dreht den oft skurrilen Protagonisten schlicht den Rücken zu. Die gezeigten Reaktionen müssen dabei längst nicht mehr zu den gezeigten Auftritten passen - daran haben wir uns als Zuschauer mittlerweile längst gewöhnt. Thomas Gottschalk sagte kürzlich auf einer Pressekonferenz zu einer seiner letzten "Wetten, dass..?"-Sendungen: "Es ist natürlich schön, wenn die Menschen Spaß haben. Aber wenn jemand die Sendung langweilig findet, dann soll er eben gähnen."

Das kann beim "Supertalent" nicht passieren, zumindest nicht in der Castingphase. Und wenn tatsächlich jemand im Publikum gähnen sollte, werden die Zuschauer vor dem Fernseher davon niemals etwas zu sehen bekommen. Was zählt, sind Dramatik und Emotionen - und zwar ausschließlich in ihren Extremen. Langeweile hat dort keinen Platz. Wer vor die Jury um Pop-Titan Bohlen tritt, wird entweder in den Himmel gelobt oder komplett fallengelassen. Grandios oder Grütze, absolute Spitzenklasse oder völlige Scheiße. Dazwischen, so hat man den Eindruck, gibt es im Universum der RTL-Castings nichts mehr. Das kann man vor allem deshalb kritisieren, weil die Gefahr besteht, dass auch die Zuschauer dadurch die Lust am Gewöhnlichen, am Alltäglichen verlieren.

Denn mit dieser Gefahr geht vor allem eine Frage einher: Wie will man das noch steigern? Es ist jedenfalls ganz sicher kein Zufall, dass "Das Supertalent" in diesem Jahr zugunsten einer längeren Casting-Phase aus gerade mal noch drei Final-Shows bestand. Dass letztlich ein Panflötist als Sieger hervorging, ist zweitrangig geworden. Längst sind die Sieger von "Supertalent" und "Superstar" nur noch Nebensache. Wie sonst lässt es sich erklären, dass Bruce Darnell munter als Juror zwischen verschiedenen Castingshows wechseln kann? Von "Germany's next Topmodel" über "Supertalent" bis hin zu "Deutschland sucht den Superstar": So sieht Austauschbarkeit aus - mit der Entscheidung, ihn in die "DSDS"-Jury zu holen, hat RTL jedenfalls bewiesen, dass es dort inzwischen längst nicht mehr um Musik, geschweige denn um Talent geht.

Ob sich das bezahlt macht, wird sich Anfang Januar zeigen, wenn "Deutschland sucht den Superstar" in die neunte Staffel gehen und sich ein Fernduell mit "The Voice of Germany" liefern wird. Die derzeit bei ProSieben und Sat.1 so erfolgreiche Castingshow macht jedenfalls Hoffnung, dass das Publikum doch noch etwas anderes sehen möchte als das kaum noch steigerbare Kuriositätenkabinett aus Bohlens Bühne. Freilich wird auch bei "The Voice" nichts dem Zufall überlassen: Auch dort werden Publikumsreaktionen mitunter munter in die Auftritte geschnitten. Und unter den Kandidaten war gewiss keiner, bei dem Nena oder Xavier Naidoo die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätten, hätten sie ihn vorher gesehen.

Dass sich die Blind Auditions zu einem derart großen Erfolg entwickelten, ließ sich zunächst auf die neuartige Idee zurückführen, wonach einzig die Stimme zählt und nicht die Optik. Dass aber selbst die klar auf den Gesang fokussierten "Battles", bei denen jeweils zwei der Casting-Kandidaten gegeneinander antreten müssen, aktuell Marktanteile von mehr als 30 Prozent einfahren, ist ein gutes Zeichen. Offenbar gibt es noch ein Publikum abseits von Bohlens Talenten, bei denen der Talent-Begriff nicht selten sehr weit gefasst werden muss. Umso beruhigender, dass "Das Supertalent" zuletzt rund zwei Millionen Zuschauer weniger erreichte als noch vor einem Jahr - ist also womöglich eine gewisse Sättigung eingetreten?

Auch der Sieger von "The Voice of Germany" wird höchstwahrscheinlich nicht der große Star, wie es ProSieben und Sat.1 derzeit Woche für Woche versprechen. Das muss aber auch nicht sein - und vermutlich erwartet das inzwischen ohnehin fast niemand mehr. Alleine die Tatsache, dass es möglich ist, eine Castingshow zu etablieren, die von den Zuschauern wegen ihrer Sänger gesehen wird und nicht wegen ihrer wilden Inszenierungen, sollte Mut machen. Vielleicht kann der zuletzt eingeschlagene, für die Unterhaltung im deutschen Fernsehen etwas besorgniserrende Weg doch noch verlassen werden. Ein wenig mehr Anspruch und dafür im Gegenzug etwas weniger Häme können ja nicht schaden.