Ein Stuhl im Publikum blieb frei bei der Neuauflage des "Literarischen Quartetts". Er galt freilich dem gerade verstorbenen Hellmuth Karasek, der über viele Jahre hinweg den Gegenspieler von Marcel Reich-Ranicki so wunderbar verkörperte. Maxim Biller, Kolumnist der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" und der "Zeit", vermutete gar einen letzten Gag, weil Karasek diese Sendung nicht mehr sehen wollte. Nun, das kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Allzu viel ist Karasek dennoch nicht entgangen, denn noch hat das neue "Quartett" einige Schwierigkeiten, in Gang zu kommen. Man kann sich allerdings sicher sein, dass er den ersten Versuch seiner Nachfolger mit Wohlwollen betrachtet hätte. 

"Vier Kritiker, vier Bücher, keine Einspielfilme und keine Einigkeit", versprach der neue "Quartett"-Chef Volker Weidermann zu Beginn der Sendung, die bereits zwei Tage vor der Ausstrahlung im Berliner Ensemble aufgezeichnet wurde – an jener Stelle also, die für immer mit dem großen Bertolt Brecht verbunden sein wird. Den hatte Reich-Ranicki einst am Ende jeder Sendung zitiert: "Wir sehen betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen." Einige Fragen bleiben auch nach dieser Neuauflage offen. Warum sich "Spiegel"-Mann Weidermann nur so selten aus der Deckung traute, beispielsweise.

Immerhin kristallisierte sich schon nach wenigen Minuten heraus, dass Maxim Biller das Zeug dazu hat, ein würdiger Nachfolger von Reich-Ranicki zu werden – so weit das eben möglich ist. Er scheut weder klare Worte noch davor zurück, seine Mitstreiter persönlich anzugreifen. Als Christine Westermann, seit fast 20 Jahren Seit' an Seit' mit Götz Alsmann bei "Zimmer frei", zu Protokoll gab, Karl Ove Knausgårds autobiografisches Werk "Träumen" nichts abgewonnen zu haben, mutmaßte Biller, seine Kollegin verdränge womöglich etwas aus ihrem eigenen Leben. "Ich will gar nicht überzeugt werden", entgegnete Westermann und störte sich lieber an "Millionen von Butterbroten", die sich der Protagonist auf 800 Seiten schmierte, oder an "18 Hektolitern Tee", die er trank. "Ich bin bei jeder einzelnen Tasse dabei", stöhnte sie.

Biller warf ihr schließlich vor, zu sehr aufs Detail zu achten und nicht so sehr aufs Ganze, was Westermann leider nicht so recht zu kontern wusste. Kurz darauf ließ Biller am neuen Buch von Ilija Trojano, das "Quartett"-Gast Juli Zeh vorstellte, kein gutes Haar. "Es war wie Folter in einem Staatssicherheitsknast", stänkerte er und sprach von einer "langweiligen Qual". So schlechte Laune wie beim Lesen dieses Buches habe er selten gehabt. Selbst Volker Weidermann schloss sich an, obwohl er, wie er eindringlich betonte, "fest entschlossen" gewesen sei, immer eine andere Meinung zu haben als Maxim Biller. Dieser wetterte schließlich auch gegen Christine Westermanns Buchvorstellung, den Roman "Fieber am Morgen" von Péter Gárdos. Als "Holocaust-Kitsch" kanzelte er das Werk ab und fand mit Juli Zeh eine eifrige Unterstützerin seiner Behauptung.

Das Literarische Quartett© ZDF/Jule Roehr

Westermann fand wiederum an Billers Empfehlung, Chigozie Obiomas Roman "Der dunkle Fluss",wenig  Gefallen, was sie auch auf die ihrer Meinung nach schlechte Übersetzung der Sprachbilder ins Deutsche zurückführte. "Eine Rotznase ist eine Rotznase ist eine Rotznase", sagte sie und wirkte regelrecht empört, als sie auf die ungelenke Beschreibung einer laufenden Nase zu sprechen kam. Und doch muss Westermann noch in ihre Rolle hineinfinden und sich trauen, ihrem streilustigen Sitznachbarn zur Rechten stärker Paroli zu bieten. Noch mehr gilt das jedoch für Volker Weidermann, der über weite Strecken der Premiere erstaunlich blass blieb. Wäre seine Wahl nicht auf den blauen Anzug gefallen, wäre er vermutlich noch weniger in Erinnerung geblieben.

Und dann ist da noch die Sache mit der Zeit. 45 Minuten sind für mehr oder weniger ernsthafte Gespräche über vier Bücher schlicht zu kurz. Nun müssen es natürlich keine 75 Minuten sein wie zu Reich-Ranickis Lebzeiten, doch auf die goldene Mitte hätte sich das ZDF schon einlassen können. "Zack, wir müssen schon zum nächsten Buch kommen", hakte Weidermann ein, als die Diskussion über das erste Werk des Abends gerade Fahrt aufzunehmen schien. Durch das enge zeitliche Korsett stand sich das neue "Literarische Quartett" bei seiner Premiere leider mehrfach selbst im Weg. Das ist schade, sind es ohnehin nicht so sehr die Bücher, die die Sendung sehenswert machen, sondern der gelebte Streit. Davon muss in Zukunft noch mehr kommen.

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