Wir schreiben den 24. August 2016, es ist ein warmer Mittwoch. Zur besten Tatzeit um 20:15 Uhr ereignet sich ein neuer Fall von "True Crime" - einem Fernsehtrend, der weltweit durch "Making a Murderer" ausgelöst wurde, in Deutschland aber bereits seit 1967 unter dem Titel "Aktenzeichen XY... ungelöst" bekannt ist. Inzwischen ist von diversen Nachahmungstätern die Rede. So läuft seit einigen Monaten nun schon die tägliche "Fahndung Deutschland" in Sat.1 und mit "Tatsache Mord? Auf der Spur des Verbrechens" gesellt sich jetzt also ein weiteres Format hinzu, das auf echte Fälle setzt. Dafür hat Sat.1 eigens die dank "Brisant" mit Blaulicht-Fällen einigermaßen vertraute Moderatorin Kamilla Senjo geholt. Gespickt mit zahlreichen Computeranimationen und visuellen Effekten rollt sie in der ersten Folge gleich sechs Fälle auf, die vom mordenden Priester bis hin zu einem riesigen Lügenkomplott eine recht beachtliche kriminelle Bandbreite zu bieten haben.
Senjo verspricht: "Wir sind bei den Verbrechen ganz nah dabei und begeben uns auf eine aufklärerische Reise, die unter die Haut geht." Ganz nah dabei ist vor allem Senjo selbst, die via Greenscreen mitten in die nachgespielten Szenen steigt und auf diese Weise zeigt, wie es aussehen würde, wenn man die grausamen Momente als Außenstehender direkt miterleben müsste. Nicht immer wirkt das vollkommen angebracht, vor allem dann nicht, wenn sich der Schauspieler im Hintergrund gerade zum lebensbeendenden Sprung in den Fluss bereit macht, während die Moderatorin in bierernster Miene daneben steht und den Satz "Was gleich passiert, ist nicht unmöglich" über ihre Lippen bringt. Das ist eine nette Spielerei, in die sich die Macher von Redseven Entertainment stellenweise etwas zu sehr verliebt haben.
Die angesprochenen Szene ist übrigens Teil des ersten Falls, in dem man offenkundig gewillt war, durchgehend die Muskeln spielen zu lassen – ganz so, als wolle man all den True-Crime-Mitbewerbern mal zeigen, dass man ihnen visuell komplett überlegen ist. Mit dem "Rätsel von Drage", das von einer verschwundenen Familie handelt, geht es um eine packende Geschichte, die das Publikum vom ersten Moment an zu fesseln weiß. Es ist aber eben auch die Grundlage für allerlei technischen Schnickschnack, den Sat.1 für nötig hielt, um den ohnehin schon mysteriösen Fall noch mysteriöser erscheinen zu lassen. In einem Mix aus echtem Archivmaterial und nachgespielten Szenen mitsamt immer wieder auftauchender Moderatorin werden Effekte eingebaut, die die gezeigten Personen wahlweise in Rauch auflösen lassen oder sie im Zeitraffer durch die Gegend befördern.
Dabei wird deutlich: Die Macher von Sat.1 sind tatsächlich flotter unterwegs, als man es beispielsweise im ZDF mit "Aktenzeichen XY" und Moderator Rudi Cerne erlebt. Im Unterschied dazu geht es bei den Fällen in "Tatsache Mord?" aber nicht darum, die Zuschauer um Hinweise zu bitten, weil die meisten von ihnen - bis auf wenige Details - sowieso aufgeklärt wurden. Doch trotz der Schnelligkeit in der Erzählung kommt Kamilla Senjo und ihrem Team glücklicherweise nur selten das nötige Fingerspitzengefühl abhanden. Gut recherchiert, lassen die Filme dem Publikum den nötigen Raum, sich in fragwürdigen Situationen auch mal ein eigenes Bild zu machen. Das ist in der Tat häufiger nötig als man denken mag. "Tatsache Mord?" handelt nämlich in der Hälfte der Fälle von Polizisten und Ermittlern, die mehr oder weniger schlampige Arbeit leisteten.
So wird beispielsweise im Fall von Ravin Vollrath, der 2005 leicht bekleidet in einem Wald erfroren ist, erst drei Jahre später ein Urteil gefällt. Das aber auch nur, weil die Eltern Verdächtige ins Spiel brachten, die ein Journalist mit Erpressung des Staatsanwaltes zum Thema machen konnte. In Bayern hat man 2001 sogar eine komplette Familie zu einer Falschaussage gezwungen. Damit liefert die neue Sat.1-Sendung einerseits spannende Unterhaltung auf Basis wahrer Begebenheiten, aber auch kritische Blickpunkte auf die Polizeiarbeit. "Tatsache Mord?" kann mit seiner losgelösten Handbremse letzlich zwar nicht an die sehr detailreiche Erzählung von "Aktenzeichen XY" heranreichen - muss das aber auch gar nicht. Tatsächlich bietet Sat.1 den Anhängern von True-Crime-Geschichten eine neue Facette, die sich irgendwo zwischen "XY" und "Making a Murderer" einordnet.
Durch die oft fehlende Tagesaktualität ergibt sich die Chance, besonders aufregende und verblüffende Fälle zu beleuchten. In Kombination mit der hochwertigen Aufmachung, die an einigen Stellen gar filmreif wirkt, liefert Sat.1 ein durchaus sehenswertes Format ab. Ob Kamilla Senjo wirklich hautnah am Tatort stehen muss, sei aber mal dahingestellt - hier wäre weniger sicher an mancher Stelle mehr gewesen. Akte geschlossen. Der nächste Fall wartet schon.