Fiktion treibt zuweilen reale Blüten. Als die Sportschützin Maria Dmitrjenko 2012 auf einem Siegerpodest in Kuwait mal wieder ganz oben stand, da lief statt ihrer kasachischen Nationalhymne eine, nun ja, etwas andere Version. Es war jene, mit der ein gewisser Borat sechs Jahre zuvor nicht den Liebreiz des weltgrößten Binnenstaats gepriesen hatte, sondern die Sauberkeit der Prostituierten oder Kali als Exportschlager. Maria Dmitrjenko, so hieß es, blieb während der ganzen Zeremonie unbewegt. Was man von einigen ihrer Landsleute kaum sagen kann.

Als der komödiantische Grenzgänger Sacha Baron Cohen angeblich landestypisch verkleidet durch Amerika reiste, „um Benefiz für glorreiche Nation von Kasachstan zu machen“, war die dortige Regierung nämlich nur mäßig amüsiert von Borats Bild einer Nation rückständiger Sextouristen mit Toleranzproblemen. Botschafter wurden konsultiert, Protestnoten verfasst, gar Verleumdungsklagen eingereicht – bis bekannt wurde, dass sich die Zahl der Reisevisa dank der Hilfe aus Hollywood offenbar verzehnfacht hatte. Womit wir in Kolumbien wären.

Wann immer die lateinamerikanische Republik in Film und Fernsehen vorkommt, geht es darin vor allem um vier Themen: Drogen, Gewalt, Korruption, Krieg und für alle, die sich trotz des abschreckenden Vierklangs noch hin trauen: Tourismus. Medellin, Kartelle, Kokain, klingelt’s? Wenn Netflix ab heute also ein Verbrechen nachstellt, das vor 26 Jahren die älteste Demokratie des Kontinents erschütterte, dürfte das Klingeln abermals zum medial geschürten Geläut anschwellen. Die Heist-Serie „El robo del siglo“ erzählt vom – so der deutsche Titel – „Jahrhundertraub“, bei dem sechs Safe-Knacker 1994 die Nationalbank um 33 Millionen Dollar erleichtert haben.

Mattglanzformat im beigegrauen Look

Nun ließe sich gewiss noch viel mehr sagen über die anschließende Flucht von Chayo (Andrés Parra) und seiner Bande Desperados: Wie sie sich mit vier Tonnen Geld im Gepäck durch ein kaputtes Land schlagen etwa, das auch vier Jahre nach dem nobelpreisgekrönten Ende eines blutigen Konfliktes nicht zur Ruhe kommt, welche Rolle also Drogen, Gewalt, Korruption, Krieg und für alle, die sich trotz des abschreckenden Vierklangs noch hin trauen: Tourismus spielen – all dies würde man gern am Beispiel der Serie erklären. Allein: Netflix betrieb eine Pressearbeit ohne Pressematerial.

Dass die Showrunner Camilo Prince und Pablo González ein Mattglanzformat im beigegrauen Look der Neunziger gemacht haben, dessen Besetzung angenehm gewöhnlich aussieht und offenbar anregende Tempowechsel vorsieht, wird zwar auch im offiziellen Trailer deutlich. Interessanter ist aber ohnehin die Frage, wie sich das Format in bisherige Fernsehproduktionen aus Kolumbien einreiht. Und vor allem: was sie mit dessen Image in aller Welt anstellen?

Der Jahrhundertraub

Schon das erste Netflix-Original „Wild District“ zeigte 2018, wie fragil der Frieden im Land der Macho-, Gewalt- und Waffenkultur ist. Die Real-Crime-Serie „Colmenares“ machte ein Jahr später den mysteriösen Tod eines Studenten zum Seriengruselthema. In „Green Frontier“ ging es kurze Zeit drauf acht Teile um eine Frauenmordserie im Dschungel. Und das alles, während ein US-Format Kolumbiens Wahrnehmung im Ausland prägte wie kein zweites: „Narcos“. Wer auch nur einige der 30 Episoden übers Leben des realen Drogenbosses Pablo Escobar sieht, verliert flugs den Glauben an die örtliche Zivilgesellschaft – so zerrüttet, grausam und machtgeil wird sie bis tief in staatliche Institutionen dargestellt.

Besser mit den örtlichen Herstellern verbünden

Kolumbiens Generalkonsul Christian Justus sieht Serien wie „Narcos“ zwar als „Ausschnitte der Realität eines globalen, nicht lokalen Phänomens“, die „gebildete Netflix-Konsumenten eher neugierig machen als abschrecken“. Trotzdem verfestigt die nackte Zahl negativer Fiktionen und Dokumentationen aus seinem Entsendestaat das abschreckende Image eines failed state. Wer „Kolumbien“ mit „Mord“ googelt, erhält daher dreimal mehr Treffer als eine Verknüpfung des Landes mit „Sozialstaat“, während die Suchmaschine bei Colombia + Terrorismo verglichen mit Prosperidad doppelt so oft fündig wird. Das Verhältnis von „Terrorismus“ zu „Wohlstand“ in Kombination mit „Deutschland“ ist genau umgekehrt.

Solche Recherchen sind natürlich unscharf. Sie verweisen aber darauf, wie Kolumbien auf sein Image reagieren würde, wäre es mit der Wirtschaftsmacht Chinas gesegnet. Eine Diktatur, die ihr Kontrollsystem zum Wohl der eigenen Überlegenheit auch im Ausland durchzusetzen beginnt – nicht selten ohne Zwang. Da es sich gerade Hollywood nicht mit dem Riesenmarkt Ost verscherzen will, herrscht bei vielen Studios vorauseilender Gehorsam. Um der patriotischen Zensur zu gefallen, wurde etwa ein chinesischer Angriff Amerikas im Blockbuster „Red Dawn“ zum nordkoreanischen, während Freddy Mercurys Homosexualität im Biopic „Bohemian Rhapsody“ dem homophoben Schnitt zum Opfer fiel.

Wer einen von nur 34 Filmen drehen möchte, die pro Jahr importiert werden, verbündet sich also besser mit örtlichen Herstellern, vermeidet das Thema Tibet und lässt wie in der „Wiederkehr“ von „Independence Day“ Pekings Truppen Seite an Seite mit den USA gegen Aliens zu Felde ziehen. Falls Kolumbien der Negativ-PR durch Gewaltserien überdrüssig ist, sollte es also sein Land aufräumen, Weltmacht werden, am besten beides. Bis dahin kann Bogota nur hoffen, dass sich Borat nie als kolumbianischer Drogenboss verkleidet und „El robo del siglo“ gar kein so kriminelles Bild dieses bezaubernden Landes zeichnet wie befürchtet.

"Der Jahrhundertraub", ab sofort auf Netflix