Es gibt in diesem Film wenig zu sehen von Wien, von Österreich. Nur schmuddelige Straßen, viel Schnee und ein ewig grauer Himmel. Trotzdem bietet diese „Abgründe“ betitelte Folge jede Menge Lokalkolorit. Sie lebt nur nicht von den einschlägigen Sehenswürdigkeiten, sondern von der Art der Menschen, von ihrer ruppigen Weise, miteinander umzugehen, von ihrer Grantigkeit, von ihrer Arroganz, von ihrem traurigen Sosein. Das führt nicht nur einmal hart an die Grenze zur Hoffnungslosigkeit und nährt erneut die These, dass Depression ein eigenes österreichisches Bundesland ist.

In den Trümmern eines verfluchten Hauses wird beim Abbruch eine Leiche gefunden. Das Haus ist verflucht, weil dort ein Mann jahrelang das Kind Melanie festgehalten hat. Einschlägige Fälle aus der realen Welt lassen schön grüßen. Als Melanie fliehen konnte, warf sich ihr Peiniger vor den Zug. So die offizielle Version. Die Tote in den Trümmern wirft ein ganz neues Licht auf die Vorgänge, denn es handelt sich um eine Kommissarin, die in diesem Fall ermittelte. Sie ist verdurstet, just in dem Verließ, in dem Melanie so lange ausharren musste. Sie wollte sich einfühlen in die Situation des Opfers, und dann fiel die Stahltür zu. Einfach so. Ein Unfall, sagen die Mächtigen im Staat, die eine Obduktion der Leiche für überflüssig halten und die Akten wegschließen.

Doch da haben sie nicht mit Chefinspektor Moritz Eisner und Major Bibi Fellner gerechnet. Eisner geht den Fall mit besonderer Energie an. Er hat etwas gutzumachen. Er war einst eine Weile der Liebhaber der jetzt toten Kommissarin, und er verstieß sie, als sie mehr wollte. Jetzt packt ihn sein schlechtes Gewissen und liefert das Motiv fürs Weiterbohren, obwohl Eisners Chef genau das verboten hat. Je weiter die Bibi und der Eisner bohren, desto mehr spüren sie, dass es um mehr als nur einen „Unfall“ geht. Es geht um missbrauchte Kinder, es geht um Taten von Menschen aus sehr hohen Kreisen, um Menschen mit allerbesten Verbindungen, um die üblichen Seilschaften.

Es fällt nicht leicht, dem Drehbuch von Uli Brée zu folgen. Wo in anderen „Tatort“-Filmen zuviel erklärt wird, bleibt hier vieles im Dunkel. Das fängt auch Harald Sicheritz mit seiner Inszenierung nicht auf. Man darf davon ausgehen, dass die beiden das mit Absicht getan haben, weil es nunmal auch im wahren Leben so ist, dass man nicht ständig alle Erklärungen mehrfach auf einem Silbertablett serviert bekommt. Wir sind schließlich in Wien und nicht in Ludwigshafen oder am Bodensee.

Also muss der Zuschauer genau aufpassen, um dem Fall zu folgen. Das ist nicht immer leicht, denn da fallen Namen wie nebenbei, sind Verdächtige nur kurz zu sehen, und irgendwann geht alles ein bisschen durcheinander, als auch noch Eisners Tochter bei einem Unfall an den Rand einer Querschnittslähmung gerät. Sie fuhr das Dienstauto des Vaters, die Bremsen waren wohl manipuliert, und Eisner bekommt eine SMS, die ihm deutlich macht, dass so etwas halt passiert, wenn man sich einmischt, wo man sich nicht nach ungeschriebenem österreichischem Gesetz besser nicht einmischen sollte.

Irgendwann merkt man dann als Zuschauer, dass es um den Fall nur am Rande geht. Im Vordergrund steht das Verhältnis von Eisner und Bibi. Es ist die Geschichte einer beruflichen Beziehung, die beiden die Last abnimmt, sich um eine funktionierende private zu kümmern. Sie streiten viel, sie brüllen sich an, aber sie sind füreinander da. Harald Krassnitzer und Adele Neuhauser spielen dieses Pärchen mit Inbrunst. Nein, sie spielen nicht, sie sind Eisner und Bibi. Sie leben dieses Miteinander ebenso wie den Zwist. Sie schreien den Partner an, und der weiß gleich, dass er jetzt gerade nicht gemeint ist, dass es halt nur darum geht, den Frust über diese beschissene Welt irgendwo abzuladen. „Abgründe“ ist die Geschichte einer großen Freundschaft. Im Prinzip muss man sich Eisner und die Bibi vorstellen wie Winnetou und Old Shatterhand, nur eben moderner.

In der Summe ergibt das zwei wunderbare Charakterstudien im Hauptgang und einen bestürzenden Kriminalfall als Sättigungsbeilage. Natürlich streift das Geschehen mehrfach den Rand zum Klischee. Wie könnte man das in Österreich vermeiden? So kurz nach dem Opernball? Aber darauf kommt es nicht an. Das Beeindruckende ist vielmehr, dass es in diesem Film in jeder Sekunden um etwas geht. Um Menschen, um die Frage der Wahrheit, um das große Warum. Das ist so viel mehr als in all den anderen als Krimi getarnten Erklärbärstücken, die einfach nur Bilder aneinanderreihen und sich einen Dreck darum scheren, was ein Film am Ende hinterlässt.