Es ist wieder Wurstbude. Am Anfang und am Ende. Das weist daraufhin, dass die Kölner Ermittler sich ihre in der März-Folge gezeigte Härte und Ernsthaftigkeit nicht bewahren können. Die Wurstbude steht im Kölner „Tatort“ halt immer für ein furchtbar künstliches Bild, quasi für ein „Tatort“-Aquarium. Nichts ist da real, alles wirkt so wie die Bude vor der Domkulisse ist: hingestellt.

Der Eindruck verstärkt sich im gesamten ersten Viertel dieses Films. Alles wirkt wie lange mit Frischhaltefolie umwickelt und gerade ausgepackt. Zum Beispiel der Kommissar Ballauf, der unbedingt noch ein Bier mit in die U-Bahn nehmen muss, dort aber in eine Schlägerei gerät. Ein Musiker wird ins Koma geprügelt, und Ballauf landet unter der einrollenden U-Bahn. Dann kommen die Eltern des Opfers ins Spiel und liefern die wohl schlechteste „Tatort“-Vorstellung aller Zeiten. Dazu passt ein ständig überzogen aufbrausender Ballauf, der natürlich überlebt hat und vom Fall abgezogen wird, weil er selbst beteiligt war. Aber natürlich mischt er weiter mit.

Thomas Jauch hat dieses Schmierenspiel nach einem Buch von Andreas Knaup in Szene gesetzt und liefert in den ersten 20 Minuten schon mehr Abschaltimpulse als jede Christine-Neubauer-Schmonzette über die ganze Spielzeit. Doch dann passiert etwas, das im deutschen Fernsehen äußerst selten passiert. Es dreht sich was. Unmerklich wandelt sich das Bauerntheater, und auf einmal wird man als Zuschauer hineingezogen in ein dichtes Geflecht aus Anschuldigungen und Abstreitereien, aus Lüge und Wahrheit. Was anfangs wie eine Gewissheit wirkte, steht plötzlich auf wackeligem Boden.

Jene, die geprügelt haben, erzählen eine ganz andere Version der Geschichte, eine, die sie in ein ganz anderes Licht setzt. Sie hätten sich nur verteidigt, sagen sie, als sie gefasst werden. Ballauf und Schenk haben dem wenig entgegenzusetzen, zumal ihnen die zuständige Haftrichterin ein ums andere Mal einen dicken Strich durch die scheinbar logische Rechnung macht. Sie können nichts beweisen.

Genau da öffnet sich eine tiefe Kluft zwischen Realität und dem, was vor Gericht Bestand haben könnte. Der Zuschauer wird dabei schnell auf die Seite der Kommissare gezogen und meint damit auch, über die letztgültige Erkenntnis zu verfügen.

Es geht um Eltern und Kinder, die eine brave Fassade pflegen, die einander aber hassen, und wenn sie sich nicht hassen, haben sie doch voreinander kapituliert. „Ohnmacht“ heißt diese Folge, und selten wurde ein „Tatort“ trefflicher betitelt. Die Ohnmacht befällt auch den Zuschauer, wenn er merkt, dass das, was er für Gerechtigkeit hält, keinen Raum erhält, dass dafür aber die Frage aufkommt, ob das, was er für Gerechtigkeit hält wirklich Gerechtigkeit ist. Zudem weiß niemand, wie viel Böses sich hinter einer kreuzbraven Fassade verbergen kann.

Wenn man sehr phantasiebegabt ist, kann man aus diesem Fall auch eine Analogie auf die NSU herauslesen. Hier wie dort geht es um zwei kriminelle Männer und eine brav aussehende Frau, der man nicht ansieht, was sie denkt und fühlt, wenn sie denn zu fühlen in der Lage ist.

Es ist eine hochkomplizierte Gemengelage, in die der Zuschauer da hineingesogen wird. Sehr leicht kann man in all dem Kleinklein des Indizienpuzzles den Überblick verlieren. Kurzum, es wird anstrengend, aber genau dadurch auch spannend. Diesen Film schaut man nicht unbeteiligt, in diesem Film ermittelt man mit.

Da wirkt es fast wie Erholung, wenn in den erzählerischen Nebensträngen ein bisschen Erholung lockt. Insbesondere die als Aushilfsassistentin vorgestellte Miriam Häslich (Lucie Heinze) macht da als versierte IT-Frau eine mehr als gute Figur. Sie handelt stets schneller als der dumpfe Ballauf denken kann. Regisseur Jauch benutzt sie auch, um das Altbackene im Polizeiapparat zu zeigen. Häslich hat die Protokolle längst an alle gemailt, aber Ballauf möchte die Mail lieber ausgedruckt haben. Als dann in einem Blog noch eine völlige andere als Ballaufs Version des Tathergangs auftaucht, fährt der Choleriker vom Dienst mal ob der anklagenden Posts aus der Haut. „Löschen sollte man das alles“, braust er auf. „Free Speech?“, hält Häslein dem entgegen, woraufhin Ballauf natürlich noch eine Eruption parat hat. „Free Speech am Arsch“, bellt er.

Am Schluss sieht es dann mal wieder sehr, sehr trist aus, weshalb dem Zuschauer kein glückliches Ende versprochen werden darf. Das, was die Jahre zerstört haben, lässt sich in 90 Minuten kaum heilen. Die Welt bleibt eine schlechte, und da hilft auch die Wurstbude nicht raus.