„Hören Sie doch auf mit dem Wiki-Leaki-Scheiß.“ Kommissar Reto Flückiger ist sauer, weil der Verdächtige unentwegt etwas von Verfolgung faselt. Er habe eine CD mit Bankdaten gestohlen und werde nun verfolgt, sagt er. Überall seien Verfolger. Überall!!! Die wollen dem Whistleblower etwas antun. Flückiger glaubt kein Wort davon, denn kurz zuvor wurde die Geliebte des Verfolgten tot aufgefunden. Dass sich der Verdächtige dann noch einen Stuhl schnappt und eine Observierungskamera im Verhörraum zertrümmert, macht seine Lage nicht leichter. Er wandert ab in die Psychiatrie.

Es war als kleiner Schreck zu werten, als herauskam, dass auf den Start in die Frischesaison gedachten, aber komplett misslungenen Österreich-„Tatort“ direkt eine Schweizer Episode folgt. Man kennt halt die Schweizer für ihre betuliche Art. Ihre „Tatorte“ zeichnet eine gewisse Langatmigkeit aus, die sich vornehmlich in architektonisch sehr besonderen Modernbauten in und um Luzern austoben darf.

In der Tat scheint auch diesen „Tatort“ eine gewisse Behäbigkeit auszuzeichnen. Die wird nur anfangs kurz durch jene paar hektische Szenen aufgehoben, in denen der Verdächtige durch Luzern hetzt und sich schließlich vor lauter Angst der Polizei stellt. Das wirkt alles wie Routine. Ja, die Schweizer. Die machen natürlich was mit Bankdaten-CDs, auf denen die Verfehlungen von deutschen Kunden nachzulesen sind. Die zugehörigen Banker sind zwielichtige Wesen, die natürlich beste Verbindungen auch ins Polizeipräsidium haben. So kommt es, dass Flückiger und seine Kollegin Liz Ritschard rasch vom Vorgesetzten an die Kandare genommen werden. Keine Ermittlungen mehr im Bankhaus ohne Kenntnis des Chefs. So weit, so Schweiz.

Ist man erst einmal derartig eingelullt, stellt man leichte Beute für das dar, was dann kommt. Nach einer gewissen Distanz entwickelt sich dieser „Tatort“ nämlich zum echten Thriller. In dem geht es um mehrere Wahrheiten und die Frage, welcher man folgen darf, welcher man folgen soll.

Bei der Zuschauerverwirrung hilft die Musik. Über eine lange Strecke wird der Beobachter auf der Couch geführt von Electroklängen, die mal bedrohlich pulsieren, mal nur tröpfeln und hier und da mal Ping machen, die aber in jeder Sekunde die Stimmung perfekt ergänzen (Musik: Fabian Römer). Alles ist im ruhigen Fluss, bis irgendwann alles zu explodieren droht.

Es ist eine überaus packende Geschichte, die Martin Maurer geschrieben hat, die Tobias Ineichen grandios inszenieren durfte. Ineichens Verdienst ist vor allem das Zulassen. Er lässt seine Leute sehr offensichtlich machen, was sie gut können, er hat Vertrauen ins Buch und die offensichtliche Überzeugung, dass die Story trägt, wenn man ihr nur Raum gibt.

Atemberaubend sind dabei vor allem die stillen Bilder am Abend, die Kameramann Michael Saxer mit Hilfe begnadeter Lichtsetzer komponiert. Jede Aufnahme wird da zum Gemälde. Gursky und Rembrandt hätten ihre Freude an diesen zur großen Kunst gefrorenen Momenten. Allein die visuelle Qualität würde diesen „Tatort“ schon über viele andere erheben.

Aber dann sind da noch die schauspielerischen Leistungen, die Ineichen aus seinem Hauptkteur herausgekitzelt. Niemals sah man Stefan Gubser als Reto Flückiger überzeugender.

Man sagt immer, es gebe hierzulande keine große Fernsehkunst mehr. Dieser „Tatort“ beweist das Gegenteil. Nun ja, es ist ein Schweizer „Tatort“, aber der wird verantwortet vom SWR. Immerhin. Kaum zu glauben, dass man den SWR nochmal für etwas loben darf. Ist doch nicht alles schlecht im Südwesten.