Am Ende reißt sich ein Hund los und läuft weg. Raus aus Gaarden, aus jenem Kieler Stadtteil, der in diesem Film als Problembezirk gezeichnet wird. Alle anderen müssen bleiben, sind verhaftet in einer Welt, in der Kinder arm und vernachlässigt sind, in einer Welt, die es erlaubt, dass Tieren mehr Aufmerksamkeit zukommt als Heranwachsenden. Es ist eine Welt aus Dreck und Verlotterung, eine Welt, in der niemand etwas dabei findet, dass Jungs bei einem vorbestraften Pädophilen abhängen und sich dort Pornos angucken und saufen und prügeln und all das anstellen, was Jungs so anstellen, wenn man sie sonst nichts lässt. Am Ende ist der Pädophile tot. Erschlagen mit einem Hammer. Aber von wem?

Regisseur Florian Gärtner hat einen beinahe klassischen Wer-war’s-Fall inszeniert. Bis zum Schluss weiß man nicht, wer für den abrupten Tod verantwortlich ist. Es geraten so einige ins Visier von Kommissar Borowski und seiner Assistentin Sarah Brandt. Da sind die Kinder, die nicht wissen wohin, da ist der Bezirkspolizist, der wusste, dass die Kinder beim späteren Opfer herumhängen, der aber vorgibt, keine Handhabe dagegen gehabt zu haben.

Eva und Volker A. Zahn haben das Buch geschrieben und ihre Mördersuche eingebettet in einen dauerhaften Clash der Kulturen. Sie haben sich Axel Milbergs Kommissar Borowski ausgesucht. An ihm demonstrieren sie die Distanz, die zwischen den Welten liegt. Borowski, der feine, immer ein bisschen blasierte und distinguierte Charakter steht plötzlich vor Kids, die nichts mehr zu verlieren haben, die seine qua Amt gegebene Autorität in Sekunden dekonstruieren, die für seinen Dienstausweis nur ein müdes Lächeln überhaben.

Anfangs ekelt sich Borowski, dann zeigt er erste Anzeichen von Empathie. Er spürt, dass diese Kinder nichts können für die Lage, in der sie festkleben. Er kann nach Feierabend raus aus diesem Elend, sie nicht. Axel Milberg spielt diese leise Annäherung sehr behutsam aus. Nur langsam schleicht sich das Verständnis in die ruppige Art seines Borowski, der immer auch etwas Bohemianhaftes mit sich trägt. Borowski lebt davon, dass er ein wenig über den Dingen schwebt, aber noch nie wurde seine kunstvoll zelebrierte Distanz so krass dekonstruiert wie in diesem Film.

Nebenbei muss er schließlich auch noch beobachten, dass seine Assistentin mit dem Dorfbullen anbändelt. Den kennt sie von früher. Sie mag ihn, obwohl er sich ziemlich albern als Cop von amerikanischem Sonnenbrillenzuschnitt inszeniert. Früher war sie die Kleine von nebenan und er der Chef der Clique, aber jetzt könnten sich die Dinge drehen, denn die Fassade, die er vor sich herträgt, wird von Anfang an als brüchig gezeichnet.

Die eigentliche Sensation in diesem als Krimi getarnten Sozialdrama sind allerdings die jugendlichen Darsteller. Die agieren allesamt höchst überzeugend, was für eine große Leistung des Regisseurs oder für unglaubliches Talent spricht. In erster Reihe stehen da die Figuren Timo Scholz und sein Bruder Leon. Timo ist in den Verdacht geraten vom späteren Opfer missbraucht worden zu sein. Er hätte ein Motiv. Sein Bruder Leon ist ganz damit beschäftigt, sich um den nun verwaisten Hund des Opfers zu kümmern, während die alleinerziehende Mutter dem zwielichtigen Dorfbullen zu Willen ist. Geborgenheit sieht anders aus.

Bruno Alexander und Amar Saaifan heißen die Darsteller von Tim und Leon. Sie sind die Stars in diesem Film, sie fallen nicht einmal aus der Rolle, denn alles entwickelt sich aus einer inneren Logik, einer Logik, die in diesem Stadtteil offenbar Gesetzeskraft hat.

Am Ende ist keiner glücklich, aber alle sind bedrückt, denn die Auflösung des Falls kann niemanden zufriedenstellen. Und wieder mal lernt man den „Tatort“ hassen, weil er den Zuschauer nach dem Abspann in die pseudojournalistische Hölle von Günther Jauch entlässt.