In einer Fernsehwelt, die immer mehr Sender und noch mehr On-Demand-Angebote bereit hält, braucht es immer mehr Inhalte. Es müssen schließlich so viele Flächen bespielt werden, wie noch nie: Alle großen TV-Häuser, egal ob öffentlich-rechtlich oder privat, fragmentieren sich selbst und schaffen Nischenangebote. Im Ergebnis hat der deutsche Fernsehzuschauer heute mehr Programmauswahl als je zuvor, wobei der Programm-Hunger all der Sender und Plattformen auch viele Sendungen durchlässt, die vorher aus gutem Grund nicht gezeigt wurden. Vom magischen Instrument der Fernbedienung wird dennoch offenbar oft nicht Gebrauch gemacht. So finden Publikum wie TV-Kritiker immer mehr Aufreger im Programm. Das Fernsehen werde immer schlechter, so auch gerade jetzt wieder der Tenor - kurz vor dem Start von Netflix in Deutschland.

Gemessen an der Ignoranz der beiden privaten Sendergruppen gegenüber dem seit nun mindestens zwei, drei Jahren international dominierenden Genre der Dramaserie, könnte man das Urteil verstehen. Hier hinkt das deutsche Fernsehen, traditionell nicht so fiktional geprägt wie beispielsweise das US-TV, weit hinterher. Doch eine Pauschalkritik am deutschen Fernsehangebot war nie unangebrachter als heute, weil sich neben der tatsächlich trägen Reaktion im Fiktionalen, im Bereich des non-fiktionalen Fernsehens aktuell mehrere positive Entwicklungen abzeichnen. Ja, für jede gute Sendung findet man heute mehr schlechte als je zuvor. Aber was wäre, wenn man diese Sichtweise einmal umkehrt und die Qualität des Fernsehens nicht daran misst, wie viel Schlechtes es gibt - sondern wie viel Gutes?

Das wäre eine Betrachtung, die nicht so schlagzeilenträchtig sind wie das Aus von „Wetten, dass..?“, die peinliche Rankingshow-Posse oder der Netflix-Launch. Eine Betrachtung, die aber Hoffnung machen kann. Die DWDL.de-Redaktion hat das deutsche Fernsehen der vergangenen gut zwölf Monate noch einmal intensiv durchforstet. Wir haben uns gefragt: Welche neuen non-fiktionalen Sendungen überzeugten? Wir haben zehn Sendungen herausgepickt, die erst im Frühjahr 2013 oder später ihre Premiere feierten, also ausdrücklich nicht die gern zitierten modernen Klassiker wie „Schlag den Raab“ (das immerhin seit beinahe acht Jahren on air ist). Dabei sind Eigenentwicklungen, gelungene Adaptionen und auch Comebacks. Bei der Betrachtung der zehn Formate ließen sich dann wiederum vier Trends ableiten.

1.) Das deutsche Fernsehen hat Relevanz

Günter Wallraff© RTL
Relevanz ist das neue Buzzword der Branche. Es ersetzt die Authentizität - ein Schlagwort, mit dem jahrelang übrigens kurioserweise ausgerechnet die Formate beschrieben wurden, die oft inszeniert wirkten. Gutes deutsches Fernsehen im Jahr 2014 zeigt das echte Leben - aber nicht zur Unterhaltung. Kein anderer Trend ist über mehr Sender hinweg zu beobachten als dieser. Besonders erwähnenswert sind hier „Der Rassist in uns“ (Doclights für ZDFneo), „Team Wallraff“ (InfoNetwork für RTL) und „Schulz in the box“ (Florida TV für ProSieben). Vom Rassismus-Experiment über die Undercover-Reportage bis zur ungewöhnlichen Presenter-Reportage vermitteln diese drei Sendungen auf unterschiedliche Art und Weise Einblicke in unser Denken und Handeln. Sie unterhalten nicht als Selbstzweck sondern mit Aussage, die entweder durch eine parallele Diskussion in Social Networks oder im Falle von „Team Wallraff“ gar eine öffentliche Debatte auslöst. Dass ausgerechnet RTL noch in der Primetime das sperrige Thema Altenpflege aufgreift, während das ZDF „Der Rassist in uns“ leider bestmöglich beim Schwestersender ZDFneo versteckte, ist eine amüsante Randnotiz.

2.) Auch die Primetime-Unterhaltung lebt

Die Höhle der Löwen© Vox
Auf der Suche nach schönen Programmideen im nur scheinbar so einfachen Genres der Unterhaltung, werden Fernsehpreis-Jurys und Kritiker oft nur in der Nische fündig. Am späten Abend, auf einem kleinen Sender - irgendwo findet sich schon eine Perle. Doch wie steht es um die große Unterhaltung zur besten Sendezeit? Eine schwierige Frage, die nicht nur die deutsche Branche umtreibt, sondern z.B. im August auch beim Edinburgh International TV Festival diskutiert wurde. Lange wurde aus Angst vor Veränderung lieber ein bewährtes Format immer weiter „optimiert“. In Deutschland war in diesem Jahr jedoch besonders ein Sender in diesem Punkt mutiger: Vox hat mit „Sing meinen Song“ (Schwartzkopff TV) und „Die Höhle der Löwen“ (Sony Pictures) gleich zwei ungewöhnliche Formate zur besten Sendezeit programmiert - und wurde dafür belohnt. Beide Sendungen waren im Vorfeld ein Risiko: Funktioniert Musik auch ohne Casting? Ist die Finanzierung von Geschäftsideen primetime-tauglich? Die Antwort ist bekannt.

3.) Bewährte Comedy lässt sich neu entdecken

Neo Magazin© ZDF/Fabian Preuschoff
Es heißt oft, man könne weder das Rad noch das Fernsehen neu erfinden. Dabei ist das manchmal gar nicht nötig. Es sind oft sogar altbekannte Zutaten, die nur neu aufbereitet werden müssen und sehr gut munden. Anfang des Jahres war „TV Total live aus New York“ (Brainpool für ProSieben) eine große Überraschung. Die Elemente der Show sind hinlänglich bekannt, doch selten erlebte man Stefan Raab mit einer solchen Spielfreude wie in dieser einen Woche. Ebenfalls neu in der Inszenierung und doch im Kern vertraut: Die beiden Formate „Neo Magazin“ (ZDFneo) und „Die unwahrscheinlichen Ereignisse im Leben von“ (WDR) aus dem Hause der Kölner Bildundtonfabrik. Einmal wochenaktuelle Comedy, einmal Sketch-Comedy mit prominentem Host a la „Saturday Night Live“. Doch mit sauberem Handwerk und gekonnter Inszenierung sind zwei Formate entstanden, die begeistern. Sie geben Hoffnung, dass Comedy im deutschen Fernsehen aus dem kreativen Tief der abgefilmten Live-Programme  findet.

4.) Selbst Talk kann noch überraschen

Sandra Maischberger© ARD
Über kein Genre wird so viel gelästert wie über die Talkshows im deutschen Fernsehen. Das Überangebot ermüdet. Doch dann kommen zwei Talkshows und beweisen, dass es auch unterhaltsam geht. Sandra Maischberger präsentiert eine Neuauflage von „Ich stelle mich“ (Vincent TV für den WDR) und bei „Kessler ist…“ (ITV Studios Germany für ZDFneo) interviewen Prominente sich selbst - in Form eines verwandelten Michael Kesslers. Beide Formate brechen mit der Routine der netten Plauderrunde. Maischbergers „Ich stelle mich“ hat uns mehr über Politiker und Politik verraten als die vorprogrammierten, furchtbar ausgewogenen aktuellen Debatten in anderen Talkshows und Michael Kessler bringt Prominente dazu, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Eine provozierte Selbstreflektion, die so pur daher kommt, dass es sich wohltuend von üblicher Promi-Plauderei abhebt. Mag es also zweifelsohne viel zu viele Talkshows geben, so beweisen diese beiden Sendungen, dass man auch in diesem Genre mit Vorurteilen vorsichtig sein sollte.

Fazit: Relevanz statt Gimmicks und Vertrauen in die Handwerke

Das deutsche Fernsehen bewegt sich derzeit in vielerlei Hinsicht in die richtige Richtung. Wichtig ist besonders eins: Das lineare non-fiktionale Fernsehen braucht mehr Relevanz, um sich von Unterhaltung on demand - Stichwort Netflix - abzusetzen. Auf der Suche nach der richtigen Antwort haben sich die Sender in den letzten zwei Jahren dem Irrglauben hingegeben, sie müssten Sendungen gezielt für Social TV, Apps und Second Screen optimieren. Ein Fehler, ebenso wie die sträfliche Vernachlässigung des Genres Serie. Die zehn Hoffnungsträger beweisen aber: Die Innovationen und Überraschungen können innerhalb bekannter Genres erfolgen - von Reportage über Show und Comedy bis zur Talkshow. Gimmicks allein tragen keine Sendung. Das ist die wirkliche Erkenntnis dieses Fernsehjahres im Bereich des Non-Fiktionalen.