Reality-Formate hatten lange ein Imageproblem. Zwar hat das Feuilleton inzwischen längst mit vielen Genres, die noch vor zehn Jahren mit einem Naserümpfen versehen wurden, seinen Frieden gemacht. Doch mit "Trash-TV" wollen sich bis heute die meisten doch lieber nicht beschäftigen. Dabei sind Reality-Formate wohl das Genre der Stunde - kaum etwas anderes wird derzeit in solchen Massen produziert. Und kaum etwas anderes lockt verlässlich so viele Leute regelmäßig vor den Fernseher - wenn auch inzwischen häufig weniger zu den linearen Sendern und mehr zu den Streaming-Angeboten.
Noch immer lautet eine weitverbreitete Annahme, mit Formaten vom "Sommerhaus der Stars" über "Promi Big Brother" bis zu "Love Island" erreiche man vor allem "bildungsferne" Schichten. "Ein weitverbreiteter Mythos – der schlicht nicht stimmt!", betont Lars Eric Mann, Chief Marketing Officer bei der Ad Alliance. "Reality begeistert Menschen über alle Bildungsschichten und Altersgruppen hinweg." Lennart Harendza, Co-CEO von Seven.One Media, pflichtet bei: "Reality-TV erreicht alle Schichten sehr gut, gerade auch gut gebildete Schichten".
Höherer Bildungsabschluss als beim Gesamtpublikum
Daten der AGF Videoforschung zeigen, dass in der Zielgruppe 14 bis 59 Jahre der Anteil von Personen mit mindestens Abitur in der Seherschaft der Top-10-Reality-Shows bei 35 Prozent liegt, während er bezogen auf das gesamte TV-Publikum nur 27 Prozent beträgt. Lars-Eric Mann liefert spannende Ergebnisse aus der eigenen Marktforschung: "Unsere neueste Erhebung zeigt: Der durchschnittliche RTL+ Reality-Fan hat (Fach)Abitur oder einen (Fach)Hochschulabschluss und ein verfügbares Haushaltsnettoeinkommen von 3.000 Euro und mehr."
Mit anderen Worten: Reality-Fans sind im Schnitt sogar besser gebildet als das Gesamtpublikum. Was auf den ersten Blick überrascht, ergibt bei näherem Hinsehen Sinn. Denn Reality bedient längst nicht mehr nur die voyeuristische Neugier, sie bietet vielmehr narrative Muster, soziale Vergleichsdynamiken und emotionale Projektionsflächen, die quer durch alle Milieus funktionieren. "Eskapismus, emotionale Bindung, Social Buzz und das Rudelgucken machen Reality zu einem Format, das verbindet", sagt Lars-Eric Mann. Besonders das "Talk-of-Town-Potenzial" und die "perfekte Ablenkung" seien entscheidend für den Erfolg. Reality sei heute "ein soziales Erlebnis – live, digital, geteilt".
Vom "Guilty Pleasure" zum "Talk of Town"
Vorbei sind also die Zeiten, in denen man Reality noch heimlich schaute, längst ist die Teil des öffentlichen Diskurses und Teil des analogen wie digitalen Alltags. Während die zeitsouveräne Nutzung verbunden mit der Explosion der Zahl bei fiktionalen Serien dazu geführt, dass man hier kaum noch über die aktuelle Folge diskutieren kann, weil kaum jemand auf dem gleichen Stand ist, haben sich Reality-Formate mit ihrem Drama-Anteil, ihren polarisierenden Protagonistinnen und Protagonisten und ihrem Potenzial, Parallelen zur echten Realität zu ziehen, zum neuen Watercooler-Gesprächsstoff entwickelt.
Auch zu den Verantwortlichen bei Marken dringt das langsam durch. "Das hohe Talk-of-Town-Potenzial macht Reality so erfolgreich – und immer mehr auch für Werbepartner relevant", sagt Lars-Eric-Mann. "Mit Mezzo Mix haben wir im letzten Jahr zum Beispiel eine erfolgreiche Kooperation zu 'Are You The One – Realitystars in Love', 'Die Bachelors' und 'Temptation Island' gestartet – auch, um mit dem 'Guilty Pleasure' Reality aufzuräumen."
TV or not TV - Ein Medium und seine Mythen
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