Heute testen wir mal, ob sich Ihr Vorurteilsempfinden, verehrte Leser, mit dem deutscher Fernsehredakteure deckt. Denken Sie also bitte gleich ganz fest daran, ob Sie zustimmen oder nicht, wenn ich Ihnen das Vorurteil der Woche verrate.

Vorurteil der Woche: Rechts-Shows im Fernsehen machen ihr Publikum schlauer.

In wenigen Momenten liegen die Ergebnisse vor, eine Sekunde noch, ah – da ist schon die Grafik. Und wir haben ein ziemlich eindeutiges Ergebnis: 100 Prozent!

Sie haben abgestimmt - irgendwas mit 100%© Sat.1 Gold

Was das bedeutet? Gar nichts. So sind Sie's doch aus dem Fernsehen gewöhnt.

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In derselben Woche, in der das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschied, den Einfluss der Politik in den Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu begrenzen, stellte sich der "SWR-Rechtsexperte" Frank Bräutigam in eine aus den 80er Jahren entliehene Studiokulisse und befahl die dort hineingezwungenen Zuschauer, Abstimmungsgeräte aus der Zeit des Schwarz-weiß-Fernsehens zu benutzen. Das Publikum sollte urteilen, ob ein Rocker, der irrtümlich dachte, bei ihm zuhause breche ein Lynchkommando ein, durch seine Haustür einen Polizisten erschießen durfte, der gerade die Haustür für eine unangekündigte Durchsuchung aufschraubte.

Der Fall stand vor zweieinhalb Jahren bundesweit in den Zeitungen, aber das hielt die neue SWR-Sendung "Ihr Urteil bitte" nicht davon ab, ihn noch einmal ganz genau aufzudröseln (Premiere in der SWR-Mediathek ansehen).

Die entscheidenden Szenen – inklusive Schuss und Totenabtransport – ließ der Sender von Schauspielern nachstellen, Anklage und Verteidigung die wichtigsten Argumente vortragen, und am Ende, als das tatsächliche Urteil aufgelöst war, liefen noch einmal die entscheidenden, mit Schauspielern nachgestellten Szenen, für den Fall, dass von den Zuschauern zuhause aus Versehen jemand sein Gehirn erst später eingesetzt hat.

Wenn er nicht gerade mit Moderationskärtchenmischen beschäftigt war, fragte Bräutigam im Studio unablässig Laienmeinungen ab, um "das Rechtsgefühl unserer Zuschauer hier mit dem realen Urteil" abzugleichen.

Frank Bräutigam fragt bei 'Ihr Urteil bitte' Laienmeinungen ab© SWR

Und weil sich trotz immer neuer Balkendiagramme in Paragrafenform nach drei Abstimmungen kaum was an der Studiomeinung geändert hatte, applaudierten die Leute einfach der Frau, die stellvertretend erklärte: "Ich bin der Meinung: Man darf niemanden umbringen, schon gar nicht durch die Tür!"

Im Grunde genommen ersetzt so ein Rechtsgefühl aus dem einfachen Volk ja unser komplettes Grundgesetz, schließlich könnte die Menschheit in Frieden leben, so lange keiner den anderen umbringt, erst recht nicht in irgendwelchen Eingangsbereichen. Aber so einfach ist es ja leider nicht. Jedenfalls gibt sich das Fernsehen gerade allergrößte Mühe, uns das in immer neuen Rechts-Shows einzubimsen.

Einige heißen – wie im SWR – "Ihr Urteil bitte", andere – wie bei Sat.1 Gold – "Ihr Urteil bitte!". Wobei die letztgenannte Variante im Unterschied zur öffentlich-rechtlichen von Ingo Lenßen moderiert wird, der im Vorspann nicht nur vor ulkig-nichtssagenden Symbolbalkendiagrammen die Arme verschränkt (siehe oben), sondern im Studio mit seiner "lieben Kollegin Verena Erni" und einer ganzen Anwaltsschar abwechselnd die schlimmsten und die kuriosesten Rechtsfälle nacherzählt. Damit sich am Studiopublikum mit den Abstimmungsgeräten überprüfen lässt, "ob sich Ihr Rechtsempfinden mit dem der Gerichte deckt".

Im Studio diskutiert Ingo Lenßen mit Anwälten und serviert Paragrafen auf Tabletts© Sat.1 Gold

In der Sendung vor zwei Wochen führte das dazu, dass Lenßen erst mit der Mutter und dem Bruder des jungen Mannes diskutierte, der in Berlin vor Schlägern aus einer Berliner S-Bahn-Station auf die Straße floh und dort überfahren wurde, woraufhin Lenßen von den Hinterbliebenen wissen wollte: "Wie haben die Täter vor Gericht argumentiert?"

Anschließend schlenderte der Zwirbelbartträger rüber zu seiner Kollegin, die als nächsten Programmpunkt den lustigen Reiserecht-Fall vortrug, bei der eine Urlauberin Schadenerstz zugesprochen bekam, weil ihr im völlig zugechlorten Hotelpool die vorher blondierten Haare grün anliefen. 75 Prozent der Studiozuschauer fanden das gerecht (ganze Sendung bei sat1gold.de ansehen).

Es ist leider nicht so, dass Zuschauer durch solche Sendungen schlauer würden. Eigentlich geht es, auch in Lenßens "Crime Talk" – wie der Sender die Show irritierenderweise nennt – vor allem darum, beim Publikum ein Kopfschütteln zu provozieren, weil ein vorgetragener Fall nicht so ausgegangen ist wie man's als Nichtexperte denken würde: Wer beim Arbeiten einschläft, vom Stuhl fällt und sich die Nase bricht, hat einen Arbeitsunfall; wer sich in der Raucherpause den Arm bricht, nicht.

Am Ende laufen in der Rubrik "Recht kurios" immer noch die Top 5 der beknacktesten Gerichtsstreitigkeiten, die die Redaktion aus dem Internet abgeschrieben hat, um sie schlecht zeichentrickanimieren zu lassen. (Entschädigungssummen werden auf Schecks eingeblendet, die ein gewisser "V. Erklagt" unterschrieben hat.)

Während bei Sat.1 Gold das Budget nur ausgereicht hat, um die wichtigsten Fälle von Leuten nachspielen zu lassen, gegen die sämtliche Protagonisten aus "Familien im Brennpunkt" wie ausgebuffte Schauspielprofis aussehen, kann der NDR in seiner Rechts-Ranking-Show "Recht so!" für die Top 10 der schönsten Gerichtsurteile aus dem Vollen schöpfen. Geschädigte Touristen, denen die Fluggesellschaft das Gepäck verschlampt hat, berichten an Originalschauplätzen (also: am Flughafen), wie ihnen die Fluggesellschaft das Gepäck verschlampt hat und dass sie sich nach drei Tagen in Riga auf eigene Initiative " eine neue Unterbuchse" kaufen mussten.

Und mit dem Herrn, der nach einem Jahr noch sein Auslandsknöllchen zahlen musste, ist der NDR an den Ort des Geschehens gefahren, einen niederländischen Anwohnerparkplatz, um ihn dort mit einem Klappschirm auf das schlecht verständliche, in niederländischer Sprache ergänzte Parkschild zeigen zu lassen und Bilder von Kontrolleuren mit bedrohlicher Musik unterlegen zu können.

Thomas Schlotbohm hätte sein Knöllchen nicht wegwerfen dürfen: Ausschnitt aus 'Recht so!' im NDR© NDR

Dabei war das Knöllchen – Überraschung! – "Recht so". Weil in anderen Ländern manchmal andere Verjährungsfristen gelten. Die Redaktion riet deshalb nachher: Erst informieren, bevor man Auslandsknöllchen wegwirft!

Na, dann hat sich der Aufwand gelohnt, oder? Ihr Urteil bitte! Ah – da ist auch schon die neue Grafik. Und wir haben wieder ein ziemlich eindeutiges gleichgültiges Ergebnis:

Sie haben abgestimmt - irgendwas mit 100%© Sat.1 Gold

Das Vorurteil: stimmt nicht.

Und das Urteil im Namen des Publikums lautet: fünf Jahre Rechts-Show-frei! Ohne Bewährung.