Vorurteil der Woche: Nur eine virtuelle Kulisse ist eine erfolgreiche Kulisse.

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Vermutlich gibt es nicht viele Menschen auf diesem Planeten, die von sich behaupten können, ihre Arbeit an einem riesigen Drops zu erledigen. Peter Kloeppel gehört auf jeden Fall dazu. Seit RTL seine Hauptnachrichtensendung vor vier Jahren vollständig virtualisierte, muss er sich täglich um viertel vor sieben an ein hellblau schimmerndes XXL-Fruchtbonbon lehnen, während er uns über die Ereignisse des Tages informiert.

RTL aktuell© RTL

Gerade hat der Sender zwar bestätigt, "RTL aktuell" in der kommenden Woche ein aufgefrischtes Design zu verpassen (DWDL berichtete). Von Dropslosigkeit war aber explizit nicht die Rede. Stattdessen sollen im virtuellen Raum "öfter totalere Kamera-Einstellungen" eingesetzt werden.

Das ist womöglich der richtige Zeitpunkt, um Einspruch zu erheben. Gegen diesen merkwürdigen Trend im deutschen Fernsehen, einen einsamen Moderator ins Greenscreen-Nichts zu stellen, um ihm dann per Computer ein riesiges Schein-Studio in den Rücken zu rechnen und die Kamera auch noch so weit wegzuschicken als sei gerade Masernquarantäne in der Kita. Weil das nämlich gar nicht modern aussieht. Sondern künstlich, kühl und einsam.

Die arme Sonja Zietlow weiß genau, wie sich das anfühlt. Dafür, dass sie einmal im Jahr für zweieinhalb Wochen den Vorzug genießt, aus dem australischen Regenwald zu moderieren, sperrt RTL sie anschließend staffelweise in die Kulissenattrappe von "Die 25", wo jederzeit befürchtet werden muss, dass die Ärmste von dem in die Sendung hineingerenderten riesigen Showtitel erschlagen werden könnte, wenn im RTL-Rechnerzentrum jemand aus Versehen gegen den PC rumpelt.

Die 25...© RTL

Die Weiterentwicklung des künstlichen "Die 25"-Studios, das sich in der Totalen auch als Quadrate-Zählspiel eignen würde, ist am heutigen Abend bei der "RTL Exclusiv"-Jubiläumssendung "Promis, Pannen & Skandale" zu sehen. In der vergangenen Woche gab Moderatorin Frauke Ludowig in der regulären Werktagssendung schon mal einen kurzen Einblick in das, was die Zuschauer erwartet – vor allem nämlich eine völlig überausgeleuchtete und glanzexplodierende Dekoration, in die eine riesige orangefarbene Blinkezunge hineinragt, auf der das "Exclusiv"-X sich dreht. So als hätte die Redaktion vorher einen Riesen erschlagen, der beim Umfallen mit der Unterlippe an der Studiodecke hängen geblieben ist.

Frauke Ludowig in der '20 Jahre Exclusiv'-Kulisse© RTL

(Dass Ludowig da im Bademantel stand, ist Ihnen deshalb bestimmt auch erst nicht aufgefallen; den Grund will sie am Samstagabend erzählen.)

Offensichtlich handelt es sich beim Zungenstudio um die neuste Generation der RTL-Virtualität, schließlich kam dieselbe Attrappe bereits bei der Rankingshowschwester "I like the 90's" zum Einsatz, wo Jan Köppen schon mal Ludowigs Studioposition warmstehen durfte.

I like the 90's© RTL

Vielleicht ist das der traurigste Nebeneffekt der Virtualisierung: Dass sich die Sender inzwischen nicht nur das Geld sparen, echte Bühnendekorationen zu bauen, die dann wiederverwertet werden müssten, sondern dass auch die virtuellen nur noch minimal verändert werden, damit sie nach neuer Show aussehen.

In jedem Fall ist es RTL gelungen, virtuelle Dekos zu entwickeln, in denen der Moderator aussieht wie ein Fremdkörper. Weil er das einzig echte ist, das geblieben ist. Und selbst nur noch – Kulisse. Diese Strategie verfolgt der Sender immerhin mit großer Konsequenz. Bei "Guten Morgen Deutschland" leuchtet Kloeppels Nachrichtendrops morgens warm-aprikosenfarben, und wenn Sie ganz genau hinsehen, erkennen Sie in der Mitte zwei längliche Farbkleckse, die aussehen, als sei da ein Insekt auf die Kameralinse geflatscht. Sind aber die Moderatoren.

Guten Morgen Deutschland© RTL

"Guten Morgen Deutschland" ist zugleich das interessanteste Beispiel unter den vielen Kunststudios, weil die Echtheit, nachdem sie zuvor sauber aus dem virtuellen Design ausgesperrt wurde, künstlich wieder eingefügt wird – nämlich mit dem Live-Blick auf den Kölner Dom, auf den RTL ja von seiner neuen Senderzentrale tatsächlich rüberschauen kann. (Nur halt nicht im Greenscreen-Studio.)

In der vergangenen Woche hatte diese Mischung den interessanten Effekt, dass während der morgendlichen Sendung die Kölner Graubewölkung ins Studio hineinsuppte und dort nicht nur einen interessanten Kontrastkampf mit den gut gelaunten Morgenshow-Creme-und-Sonnenfarben begann, sondern auch klar für sich entschied. (Und wer soll überhaupt den ganzen Saft trinken da vorne?)

Guten Morgen Deutschland© RTL

Dass "Guten Morgen Deutschland" am gestrigen Freitag, als das Wetter wieder besser war, zeitweise einfach so vom Dach der RTL-Zentrale sendete (bei rtlnow.de ansehen), ganz ohne dass der Dom hintenrein animiert werden musste, weil er da schon von sich aus herumstand, muss wohl als Mini-Rebellion gewertet werden.

Es ist nämlich so, dass eigentlich ein schlimmer Fluch über der Nicht-Virtualität im deutschen Fernsehen liegt.

Als RTL Ende des vergangenen Jahres bei seinem Experiment "sonntags.live" auf echte Kulissen vertraute, ging die Sendung prompt schief. (Kann natürlich auch daran gelegen haben, dass das "Studio" gar keins war, sondern die ausgeräumte Hausmeisterwohnung im Erdgeschoss des Sendezentrums, in der sich jemand mit Basilikumdekorationsschluckauf austoben durfte.)

Das eigentlich Sensationelle an der ProSieben-Show "Keep Your Light Shining" war ja auch nicht das ganze Rumgesinge der Kandidaten, sondern die (echte) Arena mit den tausend aufeinander abgestimmten Scheinwerfern und ihrer fantastischen Leuchtchoreopgraphie. Half nix: Eine Fortsetzung ist nicht geplant.

Keep Your Light Shining© ProSieben

Bei der "Tagesschau", die sich gerade erst das schönste echte Nachrichtenstudio des deutschen Fernsehens gegönnt hat, kann's demzufolge auch nicht mehr lange bis zur Absetzung dauern.

Nehmen wir's doch einfach hin und geben uns geschlagen: Die Virtualität hat gewonnen.

Das Vorurteil: stimmt.