Vorurteil der Woche: Tabubrüche im Privatfernsehen funktionieren immer.

* * *

Vor drei Wochen war Hugo Egon Balder im WDR bei "Die unwahrscheinlichen Ereignisse im Leben von" zu Gast und wurde den Zuschauern als "Tutti-Frutti-Legende" vorgestellt. Bis in alle Ewigkeit mit einer Sendung in Verbindung gebracht zu werden, die nun schon bald seit 22 Jahren abgesetzt ist, damit hat Balder sich abgefunden. Meistens macht er die Gags darüber selbst. Er kennt er sie eh alle auswendig. Hätte Balder in den vergangenen beiden Jahrzehnten für jede "Tutti Frutti"-Referenz einen Cent bekommen, er stünde in der Liste mit den reichsten Menschen der Welt zweifellos ganz oben.

Und zwar bestimmt nicht, weil die RTL-Show wegen ihrer ausgefeilten Spiele oder der fantastischen Kandidaten in Erinnerung geblieben wäre. Nicht mal die mit Obstnamen betitelten Damen, die sich zwischendurch frei machten, dürften der Grund sein. Vielen Leuten ist "Tutti Frutti" immer noch ein Begriff, weil die Sendung zu ihrer Zeit ein Tabubruch war.

Ein vom Sender kalkulierter, ganz sicher. Aber das hat sie unvergesslich gemacht – und Balder als Moderator auf ewig damit verbunden.

Es ist anzunehmen, dass Nela Panghy-Lee das eher nicht erdulden muss. Die von ProSieben zu RTL gewechselte Moderatorin führte im Herbst durch die Datingshow "Adam sucht Eva – Gestrandet im Paradies", bei der die Kandidaten von vornherein vollständig entkleidet waren, ohne dass dafür irgendwelche "Länderpunkte" vergeben werden mussten. Das Nackt-Dating war wieder ein kalkulierter Tabubruch – nur dass es diesmal nicht funktionierte. Ein Totalausfall war die Sendung für RTL zwar nicht. Sehr wohl aber ein Rückfall in die Flegeljahre des Privatfernsehens, als die Erfolgsrezepte noch schlicht waren. Diese Zeiten sind vorbei.

Adam sucht Eva© RTL

Ähnlich ergeht es gerade Sat.1 mit seiner Show "Hochzeit auf den ersten Blick", die ja auch nichts anderes ist als ein Bruch mit der Konvention, der möglichst viele Neugierige anlocken soll. Zwei Menschen treffen sich in der Sendung das erste Mal auf dem Standesamt, werden rechtskräftig verheiratet und müssen sich nach sechs Wochen entscheiden, ob sie zusammen bleiben – oder die Scheidung einreichen.

Sat.1 gibt sich große Mühe, das als wissenschaftliches Experiment zu verkaufen, weil die Eheleute zuvor in aufwändigen – bzw. aufwändig beschriebenen – Tests und Untersuchungen auf Gemeinsamkeiten überprüft und deshalb füreinander ausgewählt wurden. Noch viel größere Mühe macht es allerdings, sich selbst als Tabubruch zu inszenieren: "Die Presse in Aufruhr!", behauptet "Hochzeit auf den ersten Blick" wöchentlich im Intro – und blendet dazu drei dürftige Online-Schlagzeilchen ein, aus denen nicht mal der Ansatz eines Aufruhrs abzulesen ist. ("Nicht verliebt, nicht verlobt – aber verheiratet", schrieb Welt Online.) Zum Start gab es einen Anschub vom Boulevard. Doch die medienübergreifende Empörung ist ausgeblieben.

Dabei waren Tabubrüche immer, auch noch zum Start von "Big Brother", das verlässlichste Mittel für Privatsender, maximale Aufmerksamkeit in Quote umzusetzen. Mittlerweile haben die Zuschauer das Spiel durchschaut und fallen nicht mehr darauf rein.

Es ist nicht so, dass wir alle gelassener geworden wären. Die Aufregung hat sich schlicht ins Netz verlagert, wo die Abgründe oft noch viel tiefer sind und jeder Tweet inzwischen eine mittelgroße Motz- und Protestkrise auslösen kann. 

Gleichzeitig merkt das Publikum, dass die Tabubrüche im Fernsehen keine mehr sind, wenn sie sich jede Woche zur gleichen Sendezeit wiederholen. Daran sind die Sender selbst Schuld: Sicher, bei "Adam sucht Eva" sind die Kandidaten splitterfasernackt, das passiert im normalen Leben eher selten. Aber damit lässt sich eben längst noch keine ganze Stunde Unterhaltungsfernsehen füllen. Auch nicht, wenn plötzlich die dritte Nackte auf der Insel steht, um Eifersüchteleien zu provozieren, und die Kandidaten zur Sendezeitüberbrückung in sinnfreie "Wettkämpfe" gelitst werden (Volleyball-Memory, Muschelbilder am Strand legen, Sandschaufeln).

Hochzeit auf den ersten Blick© Sat.1

Die behauptete Seriosität des Sat.1-Ehe-Experiments reicht derweil auch immer bloß bis zur nächsten Werbepause, vor der aus dem Off geraunt wird: "Sehen Sie gleich: Während der Flitterwochen von Tim und Bea ziehen nicht nur am Himmel die ersten Wolken auf!" Oder: "Sehen Sie gleich: Ein harmloses Abendessen wird zur Zerreißprobe für Bea und Tim!" (Nee, wird es nicht, stellst sich nachher heraus.) Oder: "Sehen Sie nächste Woche: Traumkulisse Marokko. Trotzdem Krise bei Jana und Rico. Alles aus? Schickt er seine Frau jetzt schon in die Wüste?" Im Vorspann der Show heißt es: "Diese Fernsehsendung revolutioniert die Suche nach der ganz großen Liebe."

Dabei glaubt nichtmal Sat.1 so recht an diese "Revolution". Sonst würde "Hochzeit auf den ersten Blick" kaum im Nachmittagsprogramm laufen. Dort stimmen jetzt immerhin die Zuschauerzahlen. Auch ohne Skandal.

Es ist ganz erstaunlich, wie wenig Kreativität in international vermarkteten Formaten wie "Adam Looking For Eve" (Eyeworks) und "Married At First Sight" (Red Arrow International) noch steckt, im Kern bestehen sie fast ausschließlich aus dem Bruch eines gesellschaftlichen Tabus.  Das erste Format, in dem nackt geheiratet wird, ist sicher schon in Vorbereitung. Dabei hat das Publikum längst geschnallt, dass dahinter meist nichts steckt als pure Langeweile oder die immergleiche Konfliktbeschwörung, wie sie jeden Tag zig Mal durch zahlreiche Reality-Programme donnert.

RTL und Sat.1 haben's geschafft, dass Tabubrüche im Fernsehen kein Tabu mehr sind. Eigentlich müsste das als Zeichen genügen, um endlich damit aufzuhören.

Das Vorurteil: stimmt nicht.