"Das letzte Wort" ist eine neue deutsche Serie. Und ich sag's mal so: Wow! Ja, so kann eine neue deutsche Serie aussehen! Ich hatte relativ hohe Erwartungen, seit bekannt wurde, dass Anke Engelke die Hauptrolle spielt. Aber meine Erwartungen sind übertroffen worden. Nur ganz kurz zur Handlung, bevor ich mich auf die Dinge stürze, die mich begeistert haben: Es geht um eine Frau, deren Ehemann überraschend stirbt und die daraufhin beschließt, Trauerrednerin zu werden. 


Jetzt aber zum Wichtigsten: den Gründen, warum "Das letzte Wort" richtig gut ist.

1. Anke Engelke
Karla Fazius ist über fünfzig, ein Alter, in dem Frauen in Serien selten als Hauptfiguren vorkommen. Und man sieht Karla Fazius ihr Alter an. Doch die Figur wird nicht darauf reduziert, dass sie ein trauernde Witwe mit Falten ist. Sondern Karla Fazius hat viele Seiten - sie ist trauernde Witwe und eine Frau, in die sich andere Männer verlieben, und eine Frau, die beruflich neu durchstartet, und eine Frau, die gerne Sex hat, und eine überforderte Mutter und eine von ihrer eigenen Mutter genervte Tochter. Und ich kann mir niemand besseres als Anke Engelke vorstellen, die diese Rolle ausfüllen kann. Das hätte ich schon vor dem Gucken gesagt, aber nach dem Gucken schreibe ich es mit mehr Nachdruck: Anke Engelke ist großartigst in der Rolle. Wie sie Trauer und Schwere einerseits und andererseits die Absurditäten und die komischen Momente des Alltags, der ja weitergehen muss, miteinander verbindet, ist überzeugend. Dieses Balancieren-Können von Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit muss natürlich im Drehbuch entsprechend angelegt sein - aber dann braucht es jemanden wie Anke Engelke, die das mit einer Selbstverständlichkeit spielt, als würde sie Karla Faszius' Leben leben.
Es ist für bekannte Schauspieler und Schauspielerinnen nicht immer einfach, in andere Arten von Rollen zu schlüpfen, als die, die man von ihnen kennt. Es kann sein, dass sie dann gegen das Bild anspielen müssen, das das Publikum von ihnen hat. Und das kann schiefgehen. Doch Anke Engelke gelingt das mühelos. Die Einstiegsszene bei der misslungenen Silberhochzeitsfeier hat ja eine gewisse Engelke-Komik, was es für mich einfach gemacht hat, sie als Karla zu sehen. Als kurz darauf die ernsteren, für Engelke ungewohnteren Szenen kommen, ist sie für mich längst: Karla Fazius, nicht mehr Anke Engelke. So gut!  

2. Thorsten Merten
Ich habe bisher nicht viele Produktionen mit Thorsten Merten gesehen. Aber in denen, die ich gesehen habe, hat er mich beeindruckt. Besonders nachhaltig: seine Hauptrolle als DDR-Grenzsoldat in der Comedyserie "Sedwitz", der verbotene Ausflüge in den Westen macht. Was Thorsten Merten mit seinem Gesicht machen kann, ist bewundernswert. In manchen Szenen erst unauffällig und zurückhaltend, um dann - von einem Moment auf den anderen - nur sein Gesicht sprechen zu lassen. Und er kann so herrlich ratlos und hilflos schauen! Der von ihm gespielte Andreas Borowski ist ein Bestattungsunternehmer am Rande des Aufgebens, das erfährt man gleich in der ersten Szene. Und doch ist da immer dieser Funke, der in ihm flackert, der ihn nicht aufgeben lässt, dieser Wille, es doch zu schaffen, egal, wie das Schicksal ihm mitspielt. Thorsten Merten beherrscht es, diesen Funken durchgehend flackern zu lassen - auch wenn Borowski ein bodenständiger Typ ist, der anderen Menschen gegenüber selten Gefühle zeigt, sich mit viel abfinden kann, eher wenig redet. Bis es auch ihm irgendwann zu viel wird. Bis ihm der Kragen platzt. Und dann kann Merten voll aufdrehen, Gefühlsausbrüche zeigen, die mitreißen. Mit seinem Spiel schafft er es, dass ich Sympathie empfinde für diesen eigentlich langweiligen Bestattungsunternehmer Anfang 50, dass ich mitfiebere mit ihm und ihm so von Herzen gönnen würde, dass er glücklicher wird. Wie schön übrigens, dass Merten auch zeigen darf, wie ein optimistischer und glücklicher Borowski aussehen würde - in Folge 3, als er vor dem Blumenladen tanzt und singt. 

3. Nina Gummich
Nina Gummich habe ich in diesem Jahr bereits in zwei Produktionen gesehen - "Unterleuten" und "Liebe. Jetzt!" - und in beiden Fällen dachte ich: Von der hätte ich gerne mehr gesehen. Denn Ersteres war eine Nebenrolle (Miriam Schaller) unter vielen, zweiteres eine Episodenhauptrolle. Umso mehr habe ich mich gefreut, sie jetzt in einer Hauptrolle sechs Folgen am Stück sehen zu können. Nina Gummich spielt Karlas erwachsene Tochter Judith, die seit mehreren Jahren ausgezogen ist, sich in der Zeit selten zu Hause blicken ließ, nun aber nach dem Tod des Vaters zurückkehrt, um Mutter und Bruder zu unterstützen. Sie verleiht der Figur diese besondere "ich schaff das alles, und lasst mich mit euren Gefühlen in Ruhe"-Ausstrahlung. Eine Wand, die hier aufgebaut wird, hinter der sich so viel zu verstecken scheint, was sie aber nur hauchdünn andeutet. Ein kleines Beispiel: Nachdem Judith mit ihrem Ex-Freund Sex hatte und neben ihm im Bett liegt, sagt er: "Ich liebe dich, das weißt du doch, oder?". Sie antwortet nur "Ja. Ja." - aber dieses "Ja. Ja." ist zugleich genervt, berührt und hilflos, weil Nina Gummich all das auf einmal mit ihrer Stimme und ihrer Gestik vermitteln kann.

4. Juri Winkler
Eine 15-jährige Figur, die ein nerviger 15-Jähriger sein darf. Das kommt nicht oft vor. Da gehört einerseits ein gutes Drehbuch dazu, dass den Teenager nervige Teenager-Dinge tun und nervige Teenager-Sätze sagen lässt. Und andererseits braucht es dafür einen Schauspieler, der den 15-Jährigen genau so spielen kann: nervig und ein bisschen rehkitzig (fürs Mitgefühl). Genau das gelingt Juri Winkler als Tonio Fazius, Sohn von Karla, dessen letzte Worte zu seinem Vater vor dessen Tod waren: "Du bist echt der beschissenste Scheißvater der scheiß-verschissenen Scheißwelt." Mensch, bin ich froh, gerade keinen 15-jährigen Teenager zu Hause zu haben.

5. Das Casting
Nachdem ich die vier Hauptdarstellerinnen und -darsteller über den grünen Klee gelobt habe, ist jetzt dringend ein dickes Lob für die Arbeit von Casting Director Daniela Tolkien insgesamt nötig. Nicht nur, dass die Hauptrollen perfekt besetzt sind, auch die restliche Besetzung passt hervorragend. Zum Beispiel Gudrun Ritter als fies-verrückte Oma Mina Dahlbeck, die mit dem Leben hadert, ein richtig schlechtes Verhältnis zu ihrer Tochter Karla hat, ununterbrochen trinkt und raucht, aus sämtlichen Pflegeheimen hinausgeschmissen wird und schließlich bei Karla und den Kindern einzieht, wo sie ihrem Enkel Tonio herrlich schlechte Herzenstipps gibt. Oder Godehard Giese in der Episodenrolle als trauernder Vater, der seinen 16-jährigen Sohn abstoßend fand, sich das aber nicht eingestehen will.

6. Die Figuren
Eigentlich ist das, was in "Das letzte Wort" passiert, nicht ungewöhnlich: Ehemann stirbt, seine Witwe entdeckt, dass er ein Geheimnis hatte. Entfremdete Tochter kehrt zur trauernden Familie zurück, fühlt sich gebraucht und vergisst darüber die eigene Trauer. Pubertierender Sohn kommt nicht mit dem Tod klar, versteckt sich vor seinen Freunden, verliebt sich unpassend. Unternehmer ist kurz vor der Pleite, scheut sich aber vor Veränderungen, die Veränderungen kommen in Form einer Frau, in die er sich verliebt, seine Ehe ist eh schon am Ende. Und so weiter und so fort. Aber: Die Figuren, die all das durchmachen, sind etwas Besonderes. Sie sind lebendig, ambivalent, ungewöhnlich echt, obwohl sie leicht überzeichnet sind. Da stört es mich nicht, dass die Situationen und Konflikte, mit denen sie konfrontiert werden, einfach Alltag sind. Mir ist es egal, dass ich die Konflikte aus anderen Produktionen kenne - mich interessiert, wie genau diese Figuren mit genau diesen Situationen umgehen, wie sie reagieren, was sie fühlen, was sie sagen. Bei einer gut entwickelten Figur wie Karla wage ich nicht, vorauszusagen, wie sie sich entscheidet, wie sie handelt, was sie fühlt. Das gilt für alle vier Hauptfiguren - sie alle sind für Überraschungen gut. Genauso muss das sein. Und wenn die Figuren nicht so gut geschrieben wären, hätten mich die vier Schauspielerinnen und Schauspieler unter Umständen nicht so begeistern können - weil sie dann nicht ausreichend Material zum Arbeiten gehabt hätten.

7. Die vielen unterschiedlichen Beziehungen
Romantische Beziehungen, geschwisterliche Beziehungen, Mütter-Töchter-Beziehungen - in "Das letzte Wort" geht es um unerwartet viel Unterschiedliches. Einerseits nur folgerichtig, denn für eine sechsteilige Serie kommen verhältnismäßig viele Figuren vor, die naturgemäß in unterschiedlichen Verhältnissen zueinander stehen. Allerdings überrascht es mich, wie gut ausgearbeitet diese Beziehungen sind, ohne dass viele Worte gemacht werden. Hier setzen die Autorinnen und Autoren um Aron Lehmann und Carlos V. Irmscher oft auf Gesten und Mimik, um Verhältnisse zu klären. Und ich habe selten eine so treffende Darstellung der Genervt-sein-Liebe zwischen Geschwistern gesehen wie zwischen Judith und ihrem kleinen Bruder Tonio. Besonders toll: die Szene in Folge sechs beim Ausräumen des Schranks.

8. Die Mischung aus Tiefe und Humor
"Das letzte Wort" ist nicht witzig, auch wenn sie als Comedy beworben wird. Und auch wenn das der Trailer suggeriert. Ja, sie enthält Spuren schwarzen Humors, aber wirklich nur Spuren. Hier und da gekonnt eingesetzte Situationskomik, genauso wie eine gewisse Absurdität. Sie ist eine Serie über das Leben, mit seinen Höhen und Tiefen. Da gehört Lachen genauso dazu wie Weinen, Lebendigkeit genauso wie Tod. Alles steht in "Das letzte Wort" direkt nebeneinander, ohne dass das eine oder das andere fremd oder aufgesetzt wirkt. In diesem gelungenen Balanceakt erinnert mich die Serie an die wunderbare australische Serie "Please Like me". In Letzterer geht es zwar um andere Themen, aber auch sie bildet das Leben in seiner Gefühlsgesamtheit in dieser ganz bestimmten Tonalität ab. 

9. Das Tabuthema Tod
Der Tod hat in unserer Gesellschaft einen schlechten Stand. Er ist nicht Teil der Gesellschaft, sondern wird an den Rand gedrängt. Wir wissen zwar, dass jede und jeder irgendwann sterben muss. Dennoch: Wer trauert, wird bemitleidet, soll sich aber bitte möglichst bald wieder ganz "normal" verhalten - weil sich die anderen, die Nicht-Trauernden, sonst vielleicht selbst mit dem Thema Tod und Trauer auseinandersetzen müssen. Glücklicherweise kommt es trotzdem immer mal wieder vor, dass sich hervorragende Serien- oder Filmproduktionen des Themas annehmen: "Sixt Feet Under" ist da natürlich ein leuchtendes Beispiel, aber auch die Facebook-Serie "Sorry for Your Loss" gehört dazu.
Eine Frau zur Witwe zu machen, ist kein besonders neuer Einfall. Sie dann aber Trauerrednerin werden zu lassen, macht es möglich, den Umgang mit Tod und Trauer von unterschiedlichen Seiten beleuchten zu können. Und genau das schöpft "Das letzte Wort" aus: In jeder Folge geht es um einen anderen Todesfall, für dessen Beerdigung das Bestattungsunternehmen beauftragt wird. Eine neue Nebengeschichte, neue trauernde Figuren mit anderen Bedürfnissen und Arten, mit der Trauer umzugehen.

10. Der Vorspann
Ein Krematorium von innen, Särge, die von einer Maschine zum Verbrennen gebracht werden, dazu "I'm Gonna Live Till I Die" von Frank Sinatra. Was für ein toller Einfall fürs Intro: Banale Vorgänge nach dem Tod eines Menschen unterlegt mit einem Lied, das das Leben feiert. Gut gefilmt, passend geschnitten. Und es passt zu dem, was die Serie transportiert. (Leider habe ich den Vorspann nicht als einzelnen Clip auf Youtube gefunden, ich hätte ihn hier gerne verlinkt.) 

11. Paolo Conte
Es passieren tragische und traurige Dinge in "Das letzte Wort". Doch ohne, dass man traurige, tragische Musik dazu hören würde. Sondern: Paolo Conte, immer wieder Paolo Conte. Und zwar sein Lied "Sparring Partner", mal mit Gesang, mal nur dieses prägnante, lebendige Thema, das im Ohr hängenbleibt und nachwirkt. Diese ungewöhnliche Untermalung ist ein wichtiger Teil der oben angesprochenen Tonalität, Paolo Conte balanciert das Leben und den Tod aus.

Die sechs Folgen von "Das letzte Wort" sind bei Netflix verfügbar.