"In Jerusalem ist jeder Quadratmeter Boden auch ein Quadratmeter Politik", sagt der Sprecher aus dem Off in der Stunde um kurz nach halb zehn. In der Altstadt hat Polizist Ariel Weitzl gerade seine morgendliche Patrouille begonnen und schleppt eine kiloschwere Ausrüstung mit sich: schusssichere Weste, Helm, Kamera, Schlagstock. Im Hotel Ambassador macht Imad Hoshiyah die Zimmer der Gäste sauber, nachdem er über eine Stunde am Checkpoint hat warten müssen. Die Müllmänner Ofer Yagan und Avi Malki freuen sich auf ihre Frühstückspause. Und im Archiv von Yad Vashem digitalisiert Esther Shimberg alte Dokumente, die an den Holocaust erinnern.

Es hätte ein ganz normaler Morgen in Jerusalem sein können, wären an diesem Apriltag im vergangenen Jahr nicht 70 Kamerateams im Auftrag des deutschen Fernsehens unterwegs gewesen, um den Alltag in der 800.000-Einwohner-Stadt festzuhalten – 24 Stunden aus der Perspektive von 90 Protagonisten.

Das Ergebnis, die Dokumentation "24h Jerusalem", ist am kommenden Samstag ab 6 Uhr morgens im BR, bei Arte und im Internet zu sehen und quasi die Fortsetzung des Projekts "24h Berlin", das Regisseur Volker Heise und Produzent Thomas Kufus 2009 ins Fernsehen brachten, schon einmal 24 Stunden am Stück. Eine Wiederholung in Paris oder London habe ihn nicht gereizt, erklärte Regisseur Volker Heise bei der Vorstellung des Films in Berlin. Die Idee, das Format auf eine Stadt zu übertragen, die ganz anders funktioniert als die westlichen Metropolen, umso mehr. "Wir wachsen alle mit Vorstellungen von Jerusalem auf und kennen die Nachrichtenbilder. Unsere Idee war: Wenn wir das durch die Augen ganz normaler Leute erzählen, kommen wir vielleicht der Wirklichkeit dieser Stadt ein bisschen näher."

60 Kameras begleiteten die Porträtierten bei der Arbeit, beim Leben in der Stadt. Im Halbstunden-Rhythmus wechseln Blickwinkel und Geschichten, Protagonisten verschwinden und kehren zu späterer Stunde zurück. Der logistische Aufwand war gigantisch: Drei Jahre dauerte die Vorbereitung, und am Ende ist es wohl auch Glück gewesen, dass der Film überhaupt zustande gekommen ist.

"Wir sind da auch ein Stück weit in den Sumpf des Konflikts geraten", sagt Produzent Kufus. Der ursprünglich für September 2012 angesetzt Drehtermin musste kurzfristig verschoben werden, weil es von palästinensischer Seite den Vorwurf gab, die Doku ergreife Partei für die Seite Israels. Es folgten Boykottaufrufe an Teams und Protagonisten.

Nach zahlreichen Gesprächen, in denen die Filmemacher erneut um Vertrauen warben, klappte der Dreh zwar im zweiten Anlauf – allerdings nur mit dem Trick, dass Teams, die bei ihrer Arbeit tatsächlich behindert wurden, einen Tag später noch Szenen nachdrehen konnten. Mit 500 beteiligten Personen vor und hinter den Kameras habe der Dreh eine Größenordnung gehabt, "die in der Stadt sofort für Aufmerksamkeit sorgt", so Kufus. "Wir haben gelernt, dass das Format in einer solchen Stadt extrem verwundbar ist." Umso glücklicher sind die Beteiligten, dass es doch noch gelungen ist, und zwar ohne sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen, wie Regisseur Heise versichert: "Unser Hauptkriterium war: nicht urteilen! Am Ende sollen die Zuschauer für sich bewerten, was sie sehen und hören."

Die Verzögerungen sind auch dafür verantwortlich, dass die Dokumentation letztlich teurer geworden ist als veranschlagt und nur zu Ende gebracht werden konnte, weil die Sender bereit waren, mehr Geld zu geben. 2,4 Millionen hat "24h Jerusalem" gekostet – "weniger als eine 'Wetten, dass..?'-Ausgabe", beeilt sich Heise zu erinnern.

Die Alltagsdokumentation gehört in jedem Fall zu den größten Besonderheiten, die das deutsche Fernsehen in den vergangenen Jahren zustande gebracht hat – weil sie das Kunststück versucht, eine fremde Stadt durch die Augen der Menschen zu sehen, die dort zuhause sind. Die Kameras wollen sich dabei nur selten verstecken, oft ist ihre Präsenz völlig klar, und die Vermutung, dass sich manche Protagonisten davon in ihrem Handeln beeinflussen ließen, liegt nahe. In vielen Momenten gelingt es dennoch, dem Zuschauer den Eindruck zu vermitteln, er sei direkt dabei: auf dem Markt, in den Straßen, und bei der Arbeit in der Redaktion der Nachrichtenagentur AFP, von der die Medienmeldungen kommen, aus denen wir die Stadt kennen. Im Film heißt es über den Büroleiter: "Gute Nachrichten sind selten, schlechte die Regel, gar keine machen ihm Sorgen."

Zu den Schwachpunkten gehört, dass die Doku immer wieder mit drastischer Wortwahl auf den schwelenden Konflikt in der Stadt hinweist: "Wenn Jerusalem ein Pulverfass ist, dann ist der Tempelberg ein Sprengsatz", heißt es zum Beispiel. Mit Kommentaren zum eigentlichen Geschehen halten sich die Macher jedoch erfreulich oft zurück und lassen den Tag einfach passieren.

Zur Ausstrahlung wird die Dokumentation im Netz mit kurzen Vine-Videos aus Jerusalem begleitet. Zuschauer können online Informationen zu Themen und Protagonisten abrufen. Die Synchronisierung mit dem Live-Programm erfolgt mittels Smartphones und Tablets auf der Website 24hjerusalem.tv über einen Zahlencode, der im Fernsehen eingeblendet wird. Alle 24 Episoden der Doku sind nach der Ausstrahlung für zwei Monate im Netz abrufbar, und der BR plant Wiederholungen der einzelnen Stunden fürs kommende Jahr. Außer im deutschen Fernsehen läuft "24h Jerusalem" auch beim norwegischen Sender NRK und sechs Tage später im finnischen TV. Kooperationen mit israelischen und arabischen Sendern kamen nicht zustande.