Die Fakten sind bekannt. Am 17. Februar 2012 tritt Christian Wulff von seinem Amt als Bundespräsident zurück. Die Staatsanwaltschaft hat zuvor beantragt, seine Immunität aufzuheben. Sie will wegen des Verdachts der Vorteilsnahme im Amt ermitteln. Wulff ist nicht mehr haltbar. Er selbst kapiert das als Letzter.

Der Rücktritt wirkt im Februar 2014 immer noch nach, denn es dürfte noch ein paar Tage dauern, bis das Urteil im Wulff-Prozess gesprochen wird. Sehr wahrscheinlich ist ein Freispruch, denn mehrfach hat der Richter bereits durchblicken lassen, dass er die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft für pergamentdünn hält und entschlossen ist, sie beim Urteil in der Luft zu zerreißen. Hätte Christian Wulff also gar nicht zurücktreten müssen?

„Der Rücktritt“ gibt eine klare Antwort. Sie lautet: Doch. Und der Sat.1-Film begründet dieses „Doch“ auf eine Weise, die sehenswert ist, die Spannung liefert und trotzdem die Realität nicht aus dem Blick verliert. Es ist ein großes Risiko, einen Film über einen Vorgang im Programm zu platzieren, bevor der Vorgang gänzlich abgeschlossen ist. Es können sich Dinge anders entwickeln als gedacht. Möglicherweise wird Wulff doch noch schuldig gesprochen, und was beim Prozess gegen seinen früheren Sprecher Olaf Glaeseker herauskommt, steht auch noch in den Sternen.

Regisseur Thomas Schadt und Produzent Nico Hofmann haben es trotzdem gewagt. Sie gehen das Risiko ein, sich zwischen die Stühle zu setzen, aber sie minimieren ihre Möglichkeiten des Scheiterns, weil sie eine in sich geschlossene Geschichte erzählen, eine, die losgelöst ist von den Prozessen, von juristischen Betrachtungen. Nicht die möglichen rechtlichen Verfehlungen des Bundespräsidenten sind Thema, sondern seine Unfähigkeit, mit den Folgen seines Tuns angemessen umzugehen. Das beschreibt der Film. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist eine ganze Menge.

Zu gute kommt diesem 90-Minüter, dass von ihm nahezu nichts erwartet wird. Läuft bei Sat.1, ist eine von diesen Hofmann-Produktionen, setzt mit Anja Kling und Kai Wiesinger auf bewährte Gesichter, wie soll das ein Werk von Belang werden? Das Vorurteil steht übergroß im Raum, doch es zerbröselt von Minute zu Minute.

Im Prinzip erzählt Schadt die Geschichte einer Geiselnahme. Drinnen der Bundespräsident mit Gattin und Administration, draußen die „Bild“, die restliche Medienmeute, die Politiker, die Staatsanwälte. Die da draußen wollen etwas von denen da drinnen, doch die da drinnen kapieren nicht, worum es geht. Sie sind gut im Repräsentieren, beim Reagieren versagen sie. Vor allem einer versagt hier: Christian Wulff.

Je dichter ihm die Fragen nach seinen Krediten auf den Pelz rücken, desto ungeschickter agiert er. Er spricht Kai Diekmann auf die Mailbox, er lügt, als es darum geht, wer ihm dazu geraten habe, er laviert, er taumelt, und irgendwann findet er nichts mehr, an dem er sich festhalten könnte.

Schadt erzählt das als Dokudrama. Zwischen die Spielszenen packt er reale Berichte. Reden von Wulff, offizielle Auftritte, im Inland, im Ausland. Dann schneidet er wieder zurück ins nachgebaute Krisenzentrum, wo sich Wulff immer weiter verheddert, wo er alle enttäuscht. Man glaubte stets, zu wissen, wie es damals ablief, doch wenn man nun den Film sieht, muss man zugeben: Man hatte keine Ahnung. Alles noch viel schlimmer, viel grausamer, und manches so viel einfacher.

Natürlich gibt es ein paar Ungereimtheiten bei dieser Produktion. So kann Kai Wiesinger in keiner Minute den Eindruck erwecken, er sei Christian Wulff. Er bleibt durchweg Kai Wiesinger, der Wulff spielt. Dass das nicht zur Katastrophe ausartet, ist wohl Schadt zu verdanken, der dieses Versagen auffängt, der um die Figur Wulff herum auf andere Personen setzt. Auf den glänzend von Holger Kunkel gegebenen Glaeseker, auf die von Anja Kling kunstvoll eingefangene Bettina Wulff, auf das stocksteife Gefolge im Schloss Bellevue.

Um 68 Tage geht es, von den ersten Fragen der „Bild“ bis zum Rücktritt. Es sind 68 Tage des Untergangs, der Einbunkerung, der keimenden Endzeit. Ein Mensch und ein Apparat geraten unter Druck, und sie scheitern an dem Druck. Das ist die Geschichte, die hier am Dienstag bei Sat.1 so erzählt wird, dass es auch eine heftige Klatsche für die öffentlich-rechtliche Konkurrenz ist. Dieser Film ist so ausgefallen, dass er jederzeit bei ARD und ZDF hätte laufen können, ja hätte laufen müssen. Aber dort muss ja sicherlich gerade das nächste Christine-Neubauer-Projekt vorbereitet werden oder der 985. „Tatort“. Oder man kopiert noch eine Show bei den Privaten.

Es stimmt nicht alles in diesem Film. Er blendet zu lässig die Rolle der Medienmeute aus, und ab und an wird es einen Hauch zu glänzend im Bild, aber letztlich zeigt dieses Projekt, wohin es führen kann, wenn man Mut hat und diesen auch in die filmische Tat fließen lässt. Dafür sei Sat.1 gedankt. Kompliment. Quote hin. Quote her.