Zeit ist ja bekanntlich etwas sehr flüchtiges. Kaum hat man sie zur Kenntnis genommen, ist sie schon wieder weg. Stündlich, minütlich, sekündlich müssen wir unserer Lebenszeit beim Verrinnen zusehen. Wir können die Zeit nicht festhalten. Es sei denn wir arbeiten in einer Firma, die Gleitzeitkonten anbietet. Auf denen kann man angeblich Zeit bunkern, um sie abzurufen, wenn man sie dringlicher braucht. Ich habe allerdings den Verdacht, dass auf solchen Gleitzeitkonten nicht wirklich Zeit gelagert wird, sondern lediglich der Geldwert einer gearbeiteten Stunde, Minute, Sekunde.

Reden wir nicht drum herum: Unser Vorrat an Zeit ist endlich. Mal angenommen, wir werden 80 Jahre alt, dann haben wir 960 Monate zur Verfügung. Oder rund 29 200 Tage. Oder 700 800 Stunden. Oder 42 048 000 Minuten. Oder 2 522 880 000 Sekunden. Je nachdem, wie optimistisch oder pessimistisch man vom Schicksal kalibriert wurde, ist das entweder eine Menge Holz oder erschreckend wenig. Ich neige ja als Mann, der deutlich mehr Vergangenheit als Zukunft hat, eher zur Das-Glas-ist-halbleer-Fraktion. Ich spüre förmlich, wie die Restbestände der mir zugedachten 2,5 Milliarden Sekunden durch mich hindurch rinnen. Das macht mich ein bisschen traurig, weil es mir meine Endlichkeit gnadenlos vor Augen führt.

Man muss diese Traurigkeit kennen, um ermessen zu können, wie glücklich mich das Fernsehen derzeit macht, weil es mir beinahe täglich zusätzliche Sekunden zur Verfügung stellt. Einfach so.

Ein Quell der geschenkten Zeit sind beispielsweise Castingshows. So etwas wie "DSDS" oder "Das Supertalent". Man muss da gar nicht mal an das Experiment denken, das einst Professor Marco Schreyl leitete. Dem war aufgegeben, die jeweiligen Sieger einer "DSDS"-Show zu verkünden, und es war immer wieder ein kleines Wunder, wenn man beobachten durfte, wie es ihm gelang, den Strahl, auf dem sich unsere Zeit tummelt, so weit zu krümmen, dass es stets wirkte, als komme alles irdisches Geschehen für einen Augenblick zum Stillstand, als könne Professor Schreyl dem Verrinnen der Sekunden Einhalt gebieten. Moses teilte das Meer, Marco Schreyl zeigte, dass die Zeit in ihrer Hose ein Bündchen aus Elasthan hat. Noch heute ist ungeklärt, wo die Lebenszeit von Millionen geblieben ist, die da von RTL verdaddelt wurde.

Nein, es geht nicht um diese verbale Superslowmotion-Vorführung. Es geht um den Moment der Show, in dem ein Kandidat fertig geplärrt hat und sich anschickt, das Urteil der Kampfrichter zu empfangen. Da kommt plötzlich eine zusätzliche Sekunde ins Spiel.

Normalerweise stellt man sich die Situation ja folgendermaßen vor. Jemand singt. Trallalalala. Dann hört er auf zu singen und schaut die Juroren an. Die schauen zurück und sagen dann was. Sie sagen vielleicht nicht direkt Sinnvolles, aber ein rasches Verlegenheits-"Jo" oder "Aaah" sollte schon drin sein. Im wirklichen Leben. Nicht so im mysteriösen Kosmos der RTL-Galaxie. Dort entsteht immer eine Pause zwischen dem Vortrag und der Bewertung. Immer.

Es gibt dann in der entstehenden Lücke mindestens einen Zwischenschnitt auf das gestrenge Gesicht eines Juroren. Es sind sehr oft sehr starre, sehr verzerrte Antlitze, derer man da gewahr wird. Gerne wird dann im Hintergrund auch noch ein Dampfhammer oder etwas Ähnliches als akustischer Verstärker eingespielt. Auf einmal ist Stillstand. Totaler Stillstand. Es ist eine Szenerie, die komplett abgekoppelt ist vom wirklichen Leben. Niemals sonst stehen Reiz und Reaktion in einem solch gedehnten Verhältnis.

Ich glaube daher fest daran, dass mir just in diesem Moment eine Sekunde Lebenszeit geschenkt wird. Eine Sekunde Lebenszeit, das klingt nach wenig. Aber wenn man mal addiert, wie oft man das schon gesehen hat, dann kommt man rasch auf beeindruckende Zahlen. Ich müsste quasi nur 2,5 Milliarden Juryentscheidungen anschauen, und schwupps wäre meine Lebenszeit verdoppelt. Dann könnte ich erfreut meinem Ableben mit 160 entgegensehen. Danke RTL.

Ich weiß, dass klingt nach kruder Verschwörungstheorie, aber das mit den von RTL verschenkten Sekunden ist ja nicht der einzige Beleg für meine These. Auch bei "Bares für Rares" werden Sekunden für Lebenshungrige rausgehauen. Ich habe das gesehen. Ich habe das erlebt. Ich schaue das immer wieder. Als Sekundensammler ist das quasi mein Fitnessprogramm.

Ich verlangsame mein Altern dort jedes Mal, wenn Horst Lichter, einen Besucher, der irgendeine Antiquität angeschleppt hat, fragt, was er denn gerne für seinen Nippes hätte. Dann sagt der Mensch, dass er gerne 150 Euro hätte. Normalerweise würde jetzt der Experte, der den angeschleppten Krempel gerade begutachtet hat, die Augenbrauen heben oder senken und relativ schnell antworten, ob der vorgestellte Betrag im Bereich des Möglichen liegt oder eher als utopisch zu verorten ist.

Normalerweise. Im ZDF ticken die Uhren anders. Da gibt es meist einen Zwischenschnitt auf das in der Regel komplett ausdruckslose Gesicht des Experten, und zack, da ist sie, die geschenkte Sekunde. Erst wenn die durch ist und bei mir die Lebenszeitregistrierkasse geklingelt hat, rafft sich der Gutachter zum Gutachten auf. Ich aber halte meine Zusatzsekunde ganz fest und packe sie in den Safe, wo schon die bei "DSDS" gesammelten Exemplare liegen.

Ich kann mit Fug und Recht sagen, dass ich schon eine stattliche Anzahl von Zusatzsekunden mein eigen nennen kann. Das wird der deutschen Sozialversicherung nicht gefallen, wenn ich eigenhändig das Ende meines Rentenempfangs hinausschiebe. Aber damit müssen die leben.

Ich bin ohnehin sehr beschäftigt, weil ich auch noch andere Wege gefunden habe, mein Konto zu füllen. Ich schreibe beispielsweise komplett spinnerte Kolumnen, bei denen die Frage, welche Droge der Autor denn beim Verfassen des Textes zu sich genommen hat, keine gänzlich abwegige wäre. Wenn Sie bis hierhin gekommen sind, haben Sie bei durchschnittlicher Lesegeschwindigkeit rund fünf Minuten verdaddelt, also rund 300 Sekunden Ihrer Lebenszeit verbraucht. Und jetzt raten Sie mal, wer die jetzt auf dem Konto hat.