Herr Buhrow, in der von Ihnen in einem "FAZ"-Gastbeitrag entworfenen Vision der ARD 2030 schreiben Sie, unsere Gesellschaft stehe "vor einer Dekade digitaler Transformation". Was sagt das im Jahr 2021 über die Öffentlich-Rechtlichen aus?

Ich sage ja nicht, dass diese Transformation jetzt erst beginnt. Man könnte auch von einer weiteren Dekade der digitalen Transformation sprechen, die jetzt durch die Corona-Pandemie exponentiell beschleunigt wurde, weshalb auch medienpolitische Weichenstellungen nicht länger warten können. Es gilt, die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in dieser sich so schnell wandelnden Zeit zu definieren.

Sie sprechen in Ihrem Gastbeitrag vom „Megatrend der Individualisierung“, dem man mit On-Demand-Angeboten konsequenter gerecht werden müsse. Ist diese Individualisierung nicht Gift für einen öffentlichen Diskurs und konträr zum öffentlich-rechtlichen Auftrag?

Genau das ist die Herausforderung in einer Zeit in der sich das Nutzerverhalten zersplittert und individualisiert. Wenn jede Person zu jeder Zeit auf jedem Gerät Informationen oder Zerstreuung sucht, müssen wir eine Klammer sein, die zusammenhält. Die besondere Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks besteht darin, nicht jedem nur mehr von dem zu bieten, was er oder sie will, sondern verschiedene Genres, Themen und Meinungen zusammen zu bringen. Ich glaube das ist etwas, was wir jetzt in der Corona-Zeit auch unter Beweis stellen.

Der „Tatort“ erreicht allen Unkenrufen übers lineare Fernsehen zum Trotz zehn Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer. Im Anschluss an Unterhaltungsfernsehen folgt Angela Merkel bei Anne Will. Ob die ARD ohne das Vorprogramm gleich viele Menschen mit "Anne Will" erreichen würde?

Deswegen wird es auch immer lineares und kuratiertes Programm geben, vielleicht nicht als terrestrisch ausgestrahlte Sender aber als Kanäle in der Mediathek. Die Medienwissenschaft unterscheidet zwischen Lean-back und Lean-forward, also dem Konsumieren von Programm bei dem ich mich zurücklehne und dem Angebot folge, so lange ich interessiert bin. Lean-forward ist die bewusste Auswahl und die Interaktion mit einzelnen Angeboten. Ich bin überzeugt, dass beides eine Zukunft hat. Wir sehen ja auch, dass jetzt Streamingdienste mit linearen Angeboten experimentieren. 

Ihr „FAZ“-Beitrag war aber schon sehr auf die On-Demand-Nutzung eines Content-Netzwerks fokussiert…

Es ist ungefähr so wie bei der Erfindung des Buchdrucks: Da konnten die Mönche noch so stolz sein auf ihre schönen und aufwändig händisch gesetzten Buchstaben ihrer Bücher, wenn jemand anderes Texte plötzlich leichter und breiter zugänglich macht, dann setzt sich das durch. Dem müssen wir Sender uns stellen - und die Medienpolitik auch.

 

"Wir haben umgeswitcht auf eine Strategie, mit der wir die Nutzung vermehrt wieder auf unsere eigenen werbefreien Plattformen lenken wollen."

 

Beim Stichwort Content-Netzwerk verweisen Sie auf das Vorbild von Funk, betonen aber andererseits wie sehr unser Leben heute schon durch Firmen aus dem Silicon Valley geprägt ist. Kann bzw. darf ein noch größeres öffentlich-rechtliches Content-Netzwerk den Weg gehen, sich von Drittanbietern abhängig zu machen?

Eine extrem wichtige Frage, die Sie da stellen. Lassen Sie mich zweigeteilt antworten. Zunächst zu Funk: Da haben wir bewusst den Freiraum gegeben, nicht als eigene Plattform zu starten, sondern die jungen Nutzerinnen und Nutzer überall dort zu erreichen, wo sie medial unterwegs sind. Das hat funktioniert, aber das Fernziel ist natürlich, dass der Absender Funk als Teil von ARD und ZDF wahrgenommen wird. Mit 1Live hatte es der WDR seinerzeit ähnlich gemacht: 1Live sollte beim Start in den 90ern als frisch und unabhängig vom WDR wahrgenommen werden und hat sich bestens etabliert. Als ich WDR-Intendant wurde, habe ich gesagt: Wir haben jetzt lange auf Euch eingezahlt, jetzt müsst ihr auch auf den WDR einzahlen. Nun zur grundsätzlichen Plattformstrategie der ARD: Wir haben in den ersten Phasen der Digitalisierung auch stark auf Drittplattformen gesetzt, und tun es zum Teil immer noch. Aber wir haben umgeswitcht auf eine Strategie, mit der wir die Nutzung vermehrt wieder auf unsere eigenen werbefreien Plattformen lenken wollen. Aber es wäre auch unklug dies auf Biegen und Brechen umsetzen zu wollen, weil bei aktuellen Angeboten, zum Beispiel Nachrichten, Sport oder Podcasts, ein erheblicher Teil des Traffics und ganz viel Interaktion über Drittplattformen erfolgt. 

Stichwort Podcast: Können Sie nachvollziehen, dass es unverständlich ist, wenn die ARD einerseits über den Mangel finanzieller Mittel klagt, man schon am Rande der Belastbarkeit arbeite, der Rundfunkbeitrag steigen muss - und gleichzeitig immer neue Angebote gestartet werden?

Für mich ist es kein Widerspruch. Insgesamt muss ja jeder Sender schon seit vielen Jahren schauen, wie er auskommt. Wenn wir also neue Projekte starten, muss das woanders eingespart werden. Aber wenn wir an den erfolgreichsten Podcast des letzten Jahres denken, den vom NDR produzierten Corona-Podcast mit Professor Drosten, dann sehe ich das Geld dafür gut investiert. Es unterstreicht unsere Flexibilität, dass unsere Kolleginnen und Kollegen dafür ihre Ressourcen umschichten.

Wie fiel eigentlich das Feedback aus nach Ihren Vorschlägen, die ja durchaus Einschnitte vorsehen? Wie viel Reformwillen haben sie aus der ARD gespiegelt bekommen?

Von außen haben wir ja die Reaktion von Frau Raab in ihrem „FAZ“-Interview gelesen, an deren Gedanken ich ja angeknüpft hatte. Die Rundfunkkommission will bis Oktober einen Entwurf für die Reform des Medienstaatsvertrags vorlegen. Und für diese Überlegungen hatte ich versprochen, dass die ARD offen und konstruktiv Reformen anregen und Vorschläge einbringen wird. Das war jetzt ein erster Beitrag dazu.

Und wie fielen die Reaktionen innerhalb der ARD aus?

Dass wir vor weiteren Veränderungen stehen, ist unumstritten. Dazu haben sich auch einige Intendantenkolleginnen und -kollegen schon geäußert. Wir arbeiten in der ARD daran, wie wir unsere Gedanken in den Prozess der Rundfunkkommission einbringen können.

Tom Buhrow © WDR / Annika Fußwinkel Anders als oben, hier wieder mit Krawatte: Tom Buhrow

Wir erleben gerade so etwas wie einen öffentlichen Ideen-Wettbewerb um die Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen auch aus der ARD heraus, der insofern ungewöhnlich erscheint, weil sonst oft hinter verschlossenen Türen diskutiert wurde und die Sender meist reagiert haben statt zu agieren. Ist das jetzt eine Transparenzoffensive?

Ich finde, wir bringen besser Reformen selbst voran als von außen reformiert zu werden. Natürlich werden Reformen nie hundert Prozent Zustimmung finden und sind auch immer nach innen eine Herausforderung, weil möglichst alle mitgehen müssen. 

Und Sie sind optimistisch, dass die ARD reformwillig ist? SWR-Intendant Gniffke hat im Januar in einem DWDL-Interview einen Reform-Vorschlag formuliert, der binnen 24 Stunden brüsk zurückgewiesen wurde. Das gäbe mir kein gutes Gefühl…

Auf jeden Fall beweist das Beispiel aus dem Südwesten, dass es bei uns innerhalb der ARD Kooperations- und Reformimpulse gibt. In Landtagsanhörungen ist mir aber darüber hinaus auch begegnet, dass ein- und dieselbe Person fordert, es müsse sich alles wandeln - aber nicht im eigenen Bundesland bzw. am eigenen Standort. Das betrifft dann weniger den Reformwillen der ARD als den Dialog mit der föderalen Medienpolitik. Um die Diskussion über die Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen aber pragmatisch zu halten, hatte mein Gastbeitrag die Absicht, uns darauf zu fokussieren, Veränderungen von den Nutzerinnen und Nutzern her zu denken. Deshalb auch der Blick aufs Jahr 2030, weil man von dort besser zurückrechnen kann als sich am Ist-Zustand abzuarbeiten. Deswegen freue ich mich auch auf den neuen ARD-Zukunftsdialog, um ungeachtet der bestehenden Strukturen ungefiltert zu erfahren: Wie sehen uns die Menschen und was wünschen sie sich von uns?

Stichwort Nutzerperspektive: Sie und auch Frau Raab befürworten eine gemeinsame öffentliche-rechtliche Mediathek, ein Content-Netzwerk. Als Nutzer finde ich das pragmatisch. Ich frage mich aber, ob sie damit nicht die Büchse der Pandora geöffnet haben: Wozu braucht es doppelte Strukturen mit zwei öffentlich-rechtlichen Systemen, die ein gemeinsames Angebot erstellen?

Eine Verknüpfung und irgendwann vielleicht Zusammenführung der Mediatheken bedeutet nicht die Verschmelzung der beiden Sender, die sich aus meiner Sicht gut ergänzen und in den Fällen, in denen man auch konkurriert, gegenseitig befruchten. Ich scheue mich nicht, der Perspektive unserer Nutzerinnen und Nutzer Gehör zu schenken, weil es vielleicht irgendwann einmal strukturelle Folgen haben könnte. Und ich merke es an mir selbst: Aus der App der ARD-Mediathek raus gehen zu müssen, um dann in die ZDF-Mediathek reinzugehen, wirkt anachronistisch auf mich.

 

"Wir werden von vielen als Teil der Familie betrachtet."

 

Deshalb nochmal die Nachfrage aus Nutzersicht: Ich möchte gute öffentlich-rechtliche Inhalte und wenn die an einer Stelle vereint sind, frage ich mich: Wozu bezahle ich zweimal Buchhaltung, zweimal Justiziariat und zweimal Pförtner bei ARD und ZDF. Worin liegt der Mehrwert zweier öffentlich-rechtlicher Sender?

Also zunächst einmal verschlankt sich die ARD selbst seit Jahren, um die Wirtschaftlichkeit zu verbessern. Da warten wir nicht, sondern sind es selbst schon angegangen. Der Mehrwert und die Vielfalt sind eindeutig: Die Regionalität ist der Heimvorteil der ARD, man könnte fast Heimatvorteil sagen. Wir sind fest verankert in allen deutschen Regionen wie kein zweites Medienhaus, das ist unser einzigartiges Merkmal, unser USP, der zurzeit wertvoller ist als je zuvor, da bedauerlicherweise immer mehr Print-Medien sich unter wirtschaftlichem Druck aus der Fläche zurückziehen. Das stellt uns vor eine Aufgabe, die wir umso verantwortungsvoller wahrnehmen müssen. Und die Corona-Pandemie führt uns andauernd vor Augen, wie wertvoll verlässliche Informationen aus und für die eigene Region sind. Wo andere im Zweifel erst hinfahren müssen, sind wir seit Jahrzehnten schon Nachbarn und Teil der Gemeinschaft vor Ort.

Haben die Anstalten der ARD den Heimvorteil nicht vor Jahrzehnten schon verspielt? Gedacht, gebaut und strukturiert wurde die ARD mit dem Fokus aufs Regionale, aber alle ARD-Anstalten schielen seit Jahrzehnten mit überall verbreiteten Vollprogrammen längst auf den nationalen Medienmarkt…

Nein, das sehe ich überhaupt nicht. Unsere regionalen Programme sind zwar per Satellit überall zu empfangen, aber sie bleiben regional ausgerichtete Programme mit großem Zuspruch zum Beispiel in der Information, vom Hörfunk ganz zu schweigen. Der Hörfunk ist Tagesbegleiter für sehr viele Menschen, bindet noch mehr Menschen emotional an die Sender der ARD. Und auch im Netz sind die regionalen Angebote – zum Beispiel auf Drittplattformen – erfolgreich. Wir werden von vielen als Teil der Familie betrachtet. Der Heimvorteil muss gepflegt und ausgebaut werden. 

Wie kann so ein Ausbau aussehen?

Da hilft uns technischer Fortschritt und die Akzeptanz von neuen Kommunikationswegen, was in der Corona-Pandemie ja enorm beschleunigt wurde: Eine Webcam-Schalte hätten wir früher qualitativ immer abgelehnt, weil es nicht dem klassischen Anspruch an beste technische Qualität entspricht. Aber heute können wir viel flexibler und schneller schalten ohne in der Fläche überall teuerste Technik oder ein Studio vorhalten zu müssen. Das sind Zukunftsfragen, die mich gerade auch als WDR-Intendant beschäftigen: Also nicht weniger Regionales sondern mehr, aber dank technischer Möglichkeiten anders. Auch unsere Unterhaltung ist übrigens regional verankert und hebt sich damit ab, nicht nur von nationalen privaten Wettbewerbern sondern auch von den Angeboten internationaler Streamingdienste. Wir zeigen Deutschland so vielfältig wie niemand, in Unterhaltungsformaten, Serien und Filmen. Wir erreichen damit, etwa beim „Tatort“, enorm viele Menschen, zeigen Deutschland in seiner regionalen Vielfalt und stärken die Produktionslandschaft und die Kreativen in allen Regionen.

 

"Wir müssen raus aus der Schwerfälligkeit, dass für die Entscheidung über Einstellung oder Schaffung eines Angebots Gesetze erlassen werden müssen."

 

Aber abseits der regionalen Information und Unterhaltung in Erstausstrahlung bleiben in einem 24/7-Programmschema bei den Sendern der ARD sehr viele Stunden zu füllen.

Diese Frage ist sicher richtig gestellt, aber das meinte ich eben damit, dass ich mich nicht am Ist-Zustand abarbeiten möchte, sondern den Blick weiter nach vorne richten möchte, um von der Vision her zurückzuschauen, was das in den kommenden Jahren bedeutet. Gemeinsam mit den Gremien gilt es zu ermitteln, welche unserer Produkte wo am besten eingesetzt werden können. Das wäre fortschrittlicher als konkrete Verbreitungswege und jeden Kanal sozusagen bis zum Widerruf in einem Medienstaatsvertrag festzulegen. Aber nach dem, was man so lesen kann, ist das ja ein Thema, dass die Rundfunkkommission schon auf dem Radar hat.

Manche Sender wiederum versenden linear Programme, damit sie danach in der Mediathek abrufbar sind. Wenn medienpolitisch nicht eine lineare Ausstrahlung Voraussetzung wäre, bräuchte es einen Kanal wie One auch nicht oder?

Genau, das ist exakt ein Beispiel dafür, wo in der Zukunft Senderverantwortliche und Gremien gemeinsam entscheiden könnten.

Dann lassen Sie uns zum Schluss noch kurz über Radio sprechen. Sie schreiben in Ihrer Vision für 2030 „durch die neue grenzenlose Technik müssten nicht dutzende regionale Hörfunkwellen unterhalten werden“. Wie soll denn in dem Bereich eine Konzentration aussehen?

Wenn wir - in der angenommenen Vision 2030 - in einer Welt leben, in der Radio nicht mehr aufgrund von UKW-Frequenzen regional begrenzt ist sondern digital überall nutzbar wäre, stellt sich diese Frage ja automatisch. Dann ist die Situation in der jeweiligen Region eine andere und jeder ARD-Sender kann und muss sogar bei entsprechender Möglichkeit eines neuen Medienstaatsvertrages seinen Gremien selbst vorschlagen, welche Hörfunkprogramme linear einen großen Mehrwert haben und welche Genres besser on-demand aufgehoben sind. Den Anreiz, diese Diskussion zu führen, muss aber zunächst einmal der flexiblere medienpolitische Rahmen liefern. Wir müssen raus aus der Schwerfälligkeit, dass für die Entscheidung über Einstellung oder Schaffung eines Angebots Gesetze erlassen werden müssen. Eine gewisse Freiheit entfaltet dann automatisch eine Dynamik.

Herr Buhrow, herzlichen Dank für das Gespräch.