Als mündiger Zuschauer kann man in diesen Tagen daran mitwirken, dass gute Pilotfilme in Serie gehen und nicht so gute davor bewahrt bleiben. Die Bürde dieser Verantwortung tragen im normalen TV-Betrieb meist einige wenige Sender-Entscheider. Dass es auch anders geht, zeigt die zweite "Amazon Pilot Season", die derzeit bei Amazon Instant Video in den USA und Lovefilm in Großbritannien läuft. Unter den zehn neuen Piloten sind mit "The After" und "Bosch" erstmals auch zwei einstündige Dramaserien im Rennen.

Deutsche Kunden sind dazu von Amazon bislang nicht offiziell eingeladen. Doch zumindest kommt der VoD-Service Prime Instant Video am 26. Februar auch nach Deutschland. Amazon hat angekündigt, ihn nach US-Vorbild mit dem Kundenprogramm Amazon Prime zusammenzulegen, das zahlenden Mitgliedern bislang Gratislieferungen am nächsten Tag für zahlreiche Artikel sowie Zugang zur Kindle-Leihbücherei bietet. Das neue Amazon Prime wird dann 49 Euro statt bisher 29 Euro Jahresgebühr kosten und den Zugang zu rund 12.000 Filmen und Serienepisoden umfassen. Wer sich bis zum 26. Februar anmeldet, zahlt ein Jahr lang nur 29 Euro. Die Marke Lovefilm verschwindet und wird künftig nur noch für den physischen DVD-Versand genutzt.



Für die laufende "Amazon Pilot Season" kommt der Schritt aus deutscher Nutzersicht zu spät, an künftigen Pilotierungen werden sie aber sicher teilhaben dürfen. Das System, nach dem Amazon dabei vorgeht, hat sich bereits bei der Premiere im Frühjahr 2013 bewährt: Kostenlos und ohne die sonst notwendige Amazon-Prime-Mitgliedschaft stehen die Serien-Piloten zum Abruf bereit. Nach Ansicht wird der Nutzer eingeladen, die Sendung in einem Online-Fragebogen zu bewerten. Welche Serien einen Staffelauftrag bekommen, entscheidet der Online-Riese anhand von Abrufzahlen, Bewertungen und Kommentaren.

"Nach unseren bisherigen Erkenntnissen glauben wir, dass der gesamte Prozess gut funktioniert", sagte Amazon-Studios-Chef Roy Price dem US-Branchendienst "TheWrap". "Amazon-Kunden und IMDb-Nutzer sind sehr daran interessiert, Feedback zu Piloten zu geben und neue Dinge im Entwicklungsstadium zu beobachten." Auch die Amazon-Tochter IMDb wird intensiv in die "Pilot Season" einbezogen. Aus dem 2013er Rennen sind die Comedy-Serien "Alpha House" über eine Washingtoner Senatoren-WG und "Betas" rund um ein paar Start-up-Nerds hervorgegangen. Beide sollen in Kürze auch über das neue deutsche Amazon Prime verfügbar sein.

In der aktuellen Runde hofft "Akte X"-Erfinder Chris Carter mit seinem neuen Science-Fiction-Thriller "The After" auf Verlängerung. Die Handlung: Acht Menschen sind nach einem Stromausfall gemeinsam in einer Tiefgarage eingesperrt. Als sie entkommen können, finden sie sich draußen in einer Art Postapokalypse wieder, die sie nur gemeinsam überleben können. Am Ende des Piloten gibt es einen Hinweis darauf, dass der Einschlag offenbar keine weltliche Erklärung hat - jedoch sind weitaus mehr Fragen offen als geklärt. Carter arbeitet mit nahezu permanenter Hochspannung - und polarisiert mit seinem jüngsten Werk, wie die Reaktionen im Netz zeigen. Bislang haben 7.500 registrierte Amazon-Kunden eine Besprechung hinterlassen, deren durchschnittliche Bewertung liegt bei vier von fünf Sternen.

Auf rund hundert Besprechungen mehr sowie auf 4,7 von fünf Sternen bringt es zurzeit die Krimi-Verfilmung "Bosch" nach der gleichnamigen Bestseller-Reihe von Michael Connelly. LAPD-Kommissar Bosch versucht, den Mord an einem 13-jährigen Jungen aufzuklären, während er sich selbst für die Erschießung eines Serienmörders vor Gericht verteidigen muss. "The Wire"- und "Treme"-Macher Eric Overmyer hat den Piloten als Executive Producer zusammen mit der amerikanischen ProSiebenSat.1-Tochter Fabrik Entertainment realisiert.

Dass "Bosch" und "The After" mit Abstand die meiste Aufmerksamkeit aller Piloten auf sich ziehen und den größten Buzz erzeugen, spricht für Amazons erstmaligen Ausflug in die Stundenserie. Ansonsten stehen drei halbstündige Comedy-Serien und fünf Kinderprogramme zur Auswahl. Roman Coppola, Jason Schartzman und Paul Weitz steuern "Mozart in the Jungle" bei, einen humorvollen Blick auf Sex, Drogen und Dramen hinter den Kulissen eines Sinfonieorchesters. "Six Feet Under"-Autorin Jill Soloway erzählt in "Transparent" von den aufbrechenden Geheimnissen einer Familie in L.A. Und in dem von Ice Cube produzierten "The Rebels" erbt eine junge Frau das Football-Team ihres verstorbenen Ehemanns.

Vom Netflix-Prinzip unterscheidet sich die "Amazon Pilot Season" in drei wesentlichen Punkten - und bildet damit einen nicht minder spannenden Gegenentwurf für das Geschäftsmodell SVoD (Subscription Video on Demand). Vorreiter Netflix hat bei seinen eigenproduzierten Serien bislang komplett auf Pilotierungen verzichten. Im Gegenteil: Die Macher von "House of Cards" oder "Orange is the New Black" bekamen auf Anhieb hochvolumige Staffelaufträge. Netflix verlässt sich ganz auf seine ausgeklügelten Algorithmen und auf 800 IT-Experten, die das Nutzerverhalten im Hinblick auf Vorlieben minutiös auswerten. So lässt sich dann etwa feststellen: Überdurchschnittlich viele Kunden würden einen Politthriller von David Fincher mit Kevin Spacey in der Hauptrolle bevorzugen. Also wird "House of Cards" beauftragt.

Als weltgrößter Online-Händler verfügt Amazon über all diese und noch viel mehr Algorithmen. Zusätzlich wird dem Zuschauer mit den Piloten jedoch ein viel detaillierteres Mitspracherecht im Einzelfall gewährt. Das funktioniert nicht nur als Marketing-Hebel für Amazon Prime, sondern ermöglicht es auch, gleich zum Einstieg in die Eigenproduktion eine größere Stoffvielfalt ins virtuelle Schaufenster zu legen. Zudem fließen die inhaltlichen Bewertungen tatsächlich in die späteren Staffeln ein. Die 2013er Piloten wurden nach Angaben von Amazon jeweils mehrere 100.000 Mal abgerufen, somit wäre eine gewisse Breite und Aussagekraft von Lob und Tadel gegeben.

Damit hängt unmittelbar zusammen, dass Amazon seine Hand viel dichter am Produkt hat als Netflix. Während der langjährige DVD-Versender seine Produktionsaufträge eher wie ein Sender nach außen gibt, versteht Amazon Studios sich in erster Linie als Inhouse-Produzent, der die Werke gemeinsam mit externen Koproduzenten umsetzt. Und schließlich sind auch die Release-Strategien höchst verschieden: Während Netflix ganze Staffeln auf einen Schlag freischaltet und damit Binge Watching bis ins Extrem ermöglicht, geht Amazon konservativer vor.

Die ersten drei Folgen von "Alpha House" und "Betas" waren im vergangenen Herbst jeweils gratis für alle abrufbar, seither wird jede Woche eine neue Folge exklusiv für Amazon-Prime-Mitglieder veröffentlicht. So ähnlich soll es dem Vernehmen nach auch diesmal wieder ablaufen. Amazon-Studios-Boss Price will Binge-Angebote zwar nicht für alle Zeit ausschließen, sieht sich aber momentan durch die Analyse des Social-Media-Verhaltens in seiner Strategie bestätigt. Der Buzz von Binge-Serien sei am Anfang hoch, nehme jedoch schneller ab als bei wöchentlichen Veröffentlichungen über einen längeren Zeitraum.