Vom Journalismus, das zeigt sich selbst dort, wo er politisch noch nicht ganz so unter Druck geraten ist wie in der Türkei oder Polen, vom Journalismus erwarten viele nur wenig. Für diese Erkenntnis muss man gar nicht nach Sachsen, wo die Zweite Gewalt (Polizei) ihrer Ersten Gewalt (Wähler) gerade eifrig geholfen hat, der Vierten Gewalt (Presse) mal richtig das Maul zu stopfen; dafür reicht ein Blick ins Fernsehen, wo es vor sensationslüsternen, inkompetenten, ruhmsüchtigen, profilneurotischen, versoffenen, tendenziell unsympathischen Medienvertretern nur so wimmelt. Wer sich das Programm der vergangenen Jahrzehnte so vor Augen hält, kann da kaum glauben, dass ihr Berufsstand mal durchaus ehrenwert war.

Die Zeitungsreporterin Camille Preaker zum Beispiel liegt am helllichten Tag verkatert im Bett, als der Chefredakteur seine Mitarbeiterin von St. Louis zum Tatort zweier Mädchenmorde beordert, an dem sie gut drei Jahrzehnte zuvor geboren wurde. Die ziemlich toughe, aber verletzliche Journalistin fährt also im schrottreifen Volvo heim, hört nostalgischen Kiffer-Rock, raucht dazu Kette – und mit jedem Bier an der Tanke, jedem Schnaps aus der Minibar, jedem Flashback in die Kindheit wird klarer, was die Kleinstadt Wind Gap aus Camille Preaker gemacht hat: Ein urbanes Wrack im Griff von Alkohol, Ernüchterung und den Dämonen ihrer Vergangenheit.

Unter dem Titel "Sharp Objects" ist die HBO-Adaption von Gillian Flynn gleichnamigem Roman also nur oberflächlich ein weiterer Krimi mit Kindern als Opfern. Ähnlich seiner Seriensensation "Big Little Lies" schildert Regisseur Jean-Marc Vallées die amerikanische Provinz am Beispiel gescheiterter Existenzen zwischen unreflektiertem Traditionalismus und selbstgerechtem Fatalismus. Mit fabelhaften Darstellern, allen voran Amy Adams als Hauptfigur oder Patricia Clarkson als ihre zwanghafte Mutter Adora, zeigt uns Vallée ein krankes, larmoyantes Amerika der Abgehängten – und niemand scheint ihnen da besser den Spiegel vorhalten zu können, als eine Journalistin am Limit ihrer Belastbarkeit.

Das hat Methode.

Abgesehen von ein paar Ausnahmen mit Anstand wie die schwedische Gesellschaftsreporterin Annika Bengtzon (die jedoch kaum je was schreibt) oder Nina Kunzendorf als unbestechliche Wahrheitsjägerin im ARD-Zweiteiler "Tödliche Geheimnisse" (deren Chefin dafür mit den Mächtigen paktiert), sind Journalisten in Film & Fernsehen tendenziell desillusioniert, gern stinkend faul, meistens unfähig und häufig korrupt. Der Medienforscher Siegfried Weischenberg empfiehlt für sie daher den poetischen Begriff "Ritter von der traurigen Gestalt". Die Öffentlichkeit beauftrage sie zwar als Mechaniker, um Mängel am gesellschaftlichen Motor zu beheben, traut ihr aber zusehends weniger über den Weg als Gebrauchtwagenhändlern – was die Krakeeler von Pegida bis AfD gerade zum Kampfbegriff der "Lügenpresse" steigern.

Bei den Betroffenen führt das unvermeidlich zu Burnout, Frustration, Übereifer oder Arbeitsverweigerung. Und da Unterhaltung selten Interesse am Normalfall hat, spiegelt sich dieser Ausnahmezustand auch in der Fiktion wider. Da gibt es seit Jahrzehnten vornehmlich hyperaktive Hektiker wie in der ZDF-Zeitungslegebatterie von "Lou Grant". Selbstverliebte Whiteheads wie den "Simpsons"-Anchorman Kent Brockman. Rückgratlose Witzfiguren wie Hape Kerkelings Lokalreporter Horst Schlämmer. Liebestolle Modepüppchen wie Sarah Jessica Parkers Schuhsammlerin Carrie Bradshaw. Und die ARD malte sich den Zeitungsalltag einer Großstadt wie Aachen im "Schmunzelkrimi" "Zwischen den Zeilen" 2013 als dreiköpfiges Redaktionsteam aus Zyniker, Faulpelz und Tippse aus.

Dabei gab es jenseits von Workaholics oder Soziopathen, die statt Fakten bloß Scoops suchen und dabei billigen Filterkaffee in sich hineinschütten, schon positiver besetzte Berichterstatter. Anfang der Neunziger etwa, als das Westfernsehen dem Ostpublikum einen Crashkurs in Sachen Mediengesellschaft verschrieb, wollte "Die Gerichtsreporterin" im Ersten nichts als Gerechtigkeit, was ihr Thekla Carola Wiedt alias Anna Marx in einer Bonner Fantasiezeitung gleichtat. Die Rechercheure trugen aufklärerische Namen wie Emile Rousseau und entfachten ein publizistisches Feuer, das selbst die türkischstämmige Renan Demirkan zum allseits geachteten Mitglied der WDR-Serie Reporter machte. Gut ein Dutzend solcher Serien lief damals an, es war die Blütezeit journalistischen Verantwortungsdenkens am Bildschirm. Eine kurze, wohlgemerkt.

Und heute? Zählt die seelisch labile Alkoholikerin Camille Preaker dank ihrer Bereitschaft zur empathischen Recherche fast schon zu den Lichtgestalten ihrer Zunft. Dummerweise wird sie Folge für Folge tiefer in den Strudel aus Verbrechen und Vergangenheit gezogen, bis sie selbst mehr Berichtsobjekt als -subjekt ist. Immerhin wird ihr freier Fall Richtung Abgrund von HBO grandios in Szene gesetzt. Bleibt zu hoffen, dass sie dort lebend wieder rauskommt um das zu tun, was bei der Reise in die Vergangenheit rasch viel zu kurz kommt: Berichten. Am Ende ist das nämlich die Hauptbetätigung handelsüblicher Medienakteure mit einem Minimum an Berufsethos. Auch wenn es das Fernsehen nicht glaubt.

Sky Atlantic HD zeigt "Sharp Objects" seit vergangener Woche immer donnerstags um 20:15 Uhr, zudem stehen die Folgen bei den Abrufangeboten von Sky zur Verfügung.