„Das Publikum hat versagt“ ist ein oft gehörter Spruch bei deutschen Fernsehmachern. Es ist oft die erste Reaktion - eine Mischung aus Frust und Ratlosigkeit - angesichts der Einschaltquoten mancher Produktionen. Da laufe endlich mal etwas Gutes und das Publikum schalte ja doch nicht ein. Doch die Schuld dem Kunden zu geben, ist meist eine gewagte Strategie. Vielleicht muss man tiefer graben. Die zunächst ernüchternden und in Woche 2 enttäuschenden Einschaltquoten von „Deutschland 83“ müssen nicht ratlos machen. Man kann für diesen konkreten Fall sehr klare Analysen anstellen.

Wo soll man anfangen? Nun, die Marketingkampagne von RTL schien allein auf der gewagten These „viel hilft viel“ zu basieren. An Plakaten, Print-Anzeigen und Trailern im eigenen Programm mangelte es schließlich nicht. Nur ausgerechnet im Umfeld des Boxkampfes von Wladimir Klitschko verschenkte RTL am Samstag mit Anlauf die Gelegenheit, Werbung für "Deutschland 83" zu machen. Davon mal abgesehen, merkte man, dass RTL erschreckenderweise noch wie in seinen und des Mediums besten Zeiten denkt: Viel Marketing muss viel bringen. „Also mehr konnten wir wirklich nicht tun“, ist dann so eine schnelle Verteidigung. Dabei ging es nie um viel oder wenig, sondern um das wie. Und das war altbacken. Von einem „deutschen Serien-Event“ war die Rede. So wie auch jeder Film bei RTL inzwischen ein Event-Movie und „DSDS“ inzwischen Event-Show ist.

Das ist ungefähr so sexy wie der überstrapazierte Satz „die neue Hitserie aus den USA“. Die Zeiten in denen man dem Publikum sagen konnte, wie es etwas zu finden hat, sind allerdings längst vorbei. Der inflationäre Gebrauch solcher Floskeln wertet sie auch nicht gerade auf. Eine Hitserie? Serien-Event? Das entscheide ich. Erzählt mir lieber erstmal, warum ich es gucken sollte. Niemand schaltet „Deutschland 83“ ein, weil es ein wichtiges Projekt für RTL ist. Die Trailer waren durchschnittlich. Sie fügten sich mehrheitlich harmonisch ein ins RTL-Programm und stachen leider nicht heraus. Da war der kleine US-Pay-TV-Sender Sundance TV kreativer.

Hinter der unterschiedlichen Machart von RTL und Sundance TV in der Trailer-Promotion von "Deutschland 83" stecken auch zwei völlig verschiedene Denkmuster: Bei RTL entstehen Trailer für das lineare Programm. Entsprechend müssen sie mit Look und Tonalität ins RTL-Umfeld passen. Trailer, die mit „Das deutsche Serien-Event“ eröffnen statt erst einmal zu erzählen, werden aber vom Publikum nicht aktiv geteilt und verbreitet. Sie schreien "Ich! Bin! Werbung!". Die Trailer von Sundance TV waren hingegen frei von Zwängen und konnten mit Coolness überzeugen. Solche Trailer verbreitet das Publikum via Social Media dann auch von selbst.

Aber RTL und Internet - das ist ohnehin ein Dilemma für sich. Die Online-Präsenz von „Deutschland 83“ war ein Armutszeugnis. Eine Social Media-Strategie gab es nicht. Den von Sundance TV genutzten Twitter-Account @Deutschland83 wollte man gar nicht erst übernehmen. Bei Facebook wurden fast ausschließlich Links zu RTL.de gepostet, wo sich lustlos aufbereitete Info-Häppchen fanden. Die Serie hätte mit dem Anschub aus den USA und all der Berichterstattung im Vorfeld des deutschen Sendestarts ja nun durchaus eine Community für sich gewinnen können. Doch es gab schlichtweg gar keine digitale Heimat für „Deutschland 83“. Nur Plakate, Print-Anzeigen und Trailer im eigenen Programm - aber davon so viel wie möglich. Do it like it’s 2005.

Man kann natürlich in Frage stellen, ob das Netz so eine hohe Relevanz hat für RTL. So sieht man es jedenfalls beim Sender selbst, wo auch Führungskräfte schon ulkten, dass der Ruf des Senders im Netz ja „irgendwo knapp vor Nordkorea“ liege. Aber gerade deshalb wäre es so wichtig gewesen, mit einem Prestige-Projekt wie „Deutschland 83“ daran zu arbeiten. Über das Netz hätte RTL jene Liebhaber guter Serien für sich gewinnen können, die das lineare Programm der Kölner sonst weitgehend meiden. Es wäre eine einmalige Chance gewesen, Zuschauer für sich zurück zu gewinnen.

Die lassen sich aber nicht durch Plakate und Anzeigen („RTL, guck ich nicht“) oder Trailer im eigenen Programm erreichen (weil sie gar nicht erst einschalten). Die Chance, ein überzeugendes Programm für sich sprechen zu lassen, hat man verpasst. In einem Jahr in dem US-Sender ganze Serienfolgen vorab frei auf Facebook veröffentlichen („Homeland“, Showtime) oder andere innovative Wege finden, im Vorfeld online Aufmerksamkeit für ihre Neustarts zu generieren, um so neugierig gemachte Zuschauer für sich arbeiten zu lassen, demonstrieren die Kommunikationsmaßnahmen von RTL völlige Lustlosigkeit: Noch eine Premierenfeier für die People-Presse hier und eine Vorab-Veröffentlichung der ersten sechs Minuten dort. Immer wieder altes Denken.

Diese Erwartung, dass das Publikum einschalte, weil es Fotos vom roten Teppich in der Klatschpresse sieht? Weil Larissa Marolt (ernsthaft, RTL?) bei der Premierenfeier in die Kamera sagt, wie super sie die Serie findet? Und eine Vorabveröffentlichung von ganzen 6 Minuten nur Stunden vor dem eigentlichen Sendestart ist auch nix Halbes und nix Ganzes - noch dazu bei Bild.de. Die Kombi RTL und Bild.de - für Fans anspruchsvollen Storytellings eher eine Kombination aus der Hölle. Wieder zählte nur der Gedanke ‚Viel wird schon viel helfen‘. Und wieder wird es bei RTL heißen: „Mehr konnten wir doch jetzt wirklich nicht tun“.

Der Kölner Sender ist immer noch nicht aufgewacht: In Programm und Vermarktung orientiert man sich weiterhin viel zu oft an seinem schrumpfenden Stammpublikum. Wenn RTL sich weiterhin auf Rezepte aus seinen besten Tagen verlässt, ist der Sender allerdings bald verlassen. Umso ärgerlicher ist da der absolut fahrlässige Umgang mit „Deutschland 83“. Hier hat man eine hervorragende Serie und statt sonst so oft öffentlichem Gegenwind sogar positiven Rückenwind. Alles Zutaten, die dafür geeignet sind, um verlorene Zuschauer für sich zurückzugewinnen. Man hätte diese Zielgruppe nur auch ansprechen müssen statt sie zu ignorieren.

Oder liegt es am Ende doch an der Serie selbst? Der kalte Krieg auf deutschem Boden wurde in deutschen Filmen und Serien zweifelsohne schon ergiebig behandelt. Das schmälert für sich gesehen erst einmal nicht die Qualität einer gut erzählten und toll inszenierten Geschichte aber bringt die Produktion natürlich in die Gefahr, mit ihrem Thema nicht besonders herauszustechen. So gesehen war es die klügste Entscheidung von RTL in der gesamten Launch-Phase von „Deutschland 83“, die Serie zuerst in den USA laufen zu lassen. Für Zuschauer und Kritiker in den Staaten ist die Ost/West-Story aus dem geteilten Deutschland weitaus unbekannter und aufregender.

Das brachte äußerst positive Kritiken. Ein cleverer Schachzug, der besagten Rückenwind gab. Doch als dann der Boomerang aus den USA zurückkam, fehlte in Köln-Deutz spürbar die Lust, ihn aufzufangen. Eine große Chance wurde nicht verwandelt und dann auch noch ausgerechnet gegen die eine erfolgreiche ProSieben-Show platziert. Das ist bitter für eine großartige Serie. An Philipp Steffens, Leiter der Fiction bei RTL, kann man nur appellieren: Weitermachen mit dieser starken Programmqualität. "Deutschland 86" darf nicht daran scheitern, dass RTL bei "Deutschland 83" die Herausforderung unterschätzt hat, ein Publikum zu erreichen, was man über viele Jahre erfolgreich vom eigenen Programm entwöhnt hat.

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