Shaun Murphy hat es geschafft. Der leidenschaftliche Mediziner darf in einem renommierten Krankenhaus seine Karriere als Arzt beginnen. Er ist jung, sehr talentiert und von sich überzeugt. Das allein würde schon reichen, um es als Neuer im Team der Klinik - in der jeder um Ansehen und Position kämpft - schwer zu haben. Doch Shaun Murphy ist Autist. Seine Inselbegabung, die bemerkenswerten medizinischen Fachkenntnisse, wird von einigen bewundert. Andere aber fragen sich: Ist ein Mensch, der keine Empathie für seine Patienten empfinden kann, die richtige Person, um Leben zu retten?



Willkommen bei „The Good Doctor“, dem jüngsten Vertreter des progressiven Wohlfühl-Fernsehens. So wie der NBC-Erfolg „This is us“ vermeintlich nur eine Familienserie ist, kommt „The Good Doctor“ nur vermeintlich als weitere Krankenhausserie daher. Was beide Produktionen deutlich abhebt und eint, ist die Story und Inszenierung. Mögen PayTV und SVoD wahlweise Fantastisches, Untotes oder Extremes bieten, wärmen diese beiden Serien wie ein heißes Bad nach Feierabend. Zum Erfolg werden sie aber erst, weil beide Serien durch ihre Charaktere und Storylines Themen in den Mittelpunkt rücken, die zuvor oft nur Randerscheinung waren.

Dabei ist der Autismus von Shaun Murphy bei „The Good Doctor“ eben nicht nur als Behinderung dargestellt. Wird er auf der anderen Seite etwa zur Problemlosigkeit verklärt? Nein, auch das nicht. Natürlich gibt es Witze auf seine Kosten. Die Selbstverständlichkeit, mit der das US-Fernsehen in den letzten Jahren Menschen mit Behinderung in den Mittelpunkt von guter Unterhaltung stellt, ist bemerkenswert. Empfehlenswert ist beispielsweise auch die Comedy „Speechless“, die übrigens ebenso wie „The Good Doctor“ in den USA auch bei ABC läuft.

Immer wenn Shaun Murphy dank seiner Inselbegabung sieht und analysiert, was sonst keiner erkennt, wird dies in der Serie mit komplexen Grafiken und Einblendungen visualisiert. Sie deuten uns Zuschauern an, was die Lösung sein könnte, die Murphy entdeckt hat. Unterstützung bekommt Murphy übrigens vom Direktor des Krankenhauses. Warum? Das erfahren wir in Rückblenden. Die Erzählung auf verschiedenen Zeitebenen ist auch so eine Gemeinsamkeit zwischen „This is us“ und „The Good Doctor“, wenn auch hier weitaus dezenter. Aber es ist der gleiche Kniff, um Charaktere mit Hintergrund und Tiefe aufzuladen.

Die Hauptrolle wird gespielt von Freddie Highmore. Der 26-jährige Brite aus London könnte dem deutschen Publikum vorrangig als junger Hauptdarsteller an der Seite von Johnny Depp in Tim Burton’s „Charlie und die Schokoladenfabrik“ (2005) sowie Hauptdarsteller der Serie „Bates Motel“ (2013-2017) bekannt sein. In den späteren Staffeln der A&E-Serie übte sich Highmore auch schon an Drehbuch und Regie. An seiner Seite gibt es bei „The Good Doctor“ übrigens u.a. auch ein Wiedersehen mit dem fabelhaften Richard Schiff („The West Wing“) als besagtem Krankenhaus-Direktor.

Im Mai vergangenen Jahres war „The Good Doctor“ bei den LA Screenings eine der Lieblingsserien der internationalen Fernseheinkäufer. Nach Sichtung der Pilotepisode freuten sich Vertreter von werbefinanzierten Sendern über zwei Aspekte der Serie: Zum Einen ist mit Showrunner David Shore der Erfinder von „Dr. House“ am Ruder. Das weckte sofort Hoffnungen auf einen erneuten Hit - und natürlich sind Parallelen in den Grundanlagen unverkennbar.

Kern beider Serien sind Krankenhaus-Geschichten, allerdings erzählt rund um einen, jeweils auf seine Art, besonderen Arzt. Damals wie heute sorgt dies für tragische wie komische Momente und generiert automatisch Fallhöhen. Die weitgehende Zuspitzung auf einen Titelhelden hebt beide Serien auch angenehm ab von den klassischen Ensemble-Serien bei denen der Arbeitsplatz Klinik oft nur Schauplatz für Beziehungsgeschichten ist.

Der zweite Aspekt, über den sich die Serieneinkäufer im vergangenen Mai so gefreut haben - und hier zeigt sich der durch Cable- und SVoD-Produktionen veränderte Seriengeschmack - ist die etwas stärkere horizontale Erzählung. Vor ihr haben werbefinanzierte Sender oft Angst, weil es einen späteren Einstieg in die Serie erschwert. Ein bisschen Tiefe darf es aber schon sein. Und hier trifft „The Good Doctor“ die richtige Balance aus einer Geschichte der Woche und der horizontal erzählten Heldenreise des Shaun Murphy.

Die Pilotepisode ist ein starker Einstieg in die Serie und glücklicherweise hält die erste Staffel danach das starke Niveau. Es ist charmant zu erleben, wie Murphy Ironie zu erahnen lernt und als Erwachsener entfernt von seiner Mutter ein eigenes Leben beginnt. Für Fans horizontal erzählter Serien sei gesagt: Diese Aspekte sind bei „The Good Doctor“ mehr als die sonst übliche, sehr dezente Rahmenhandlung; mehr als Alibi. Es lohnt sich einzutauchen in „The Good Doctor“ und über eine absurde Szene der ersten Folge hinweg zu sehen, in der Murphy am Flughafen heldenhaft ein Menschenleben rettet - und man sich fragt: Gibt es im ganzen Flughafen keine Sanitäter?

"The Good Doctor" startet heute um 20.15 Uhr bei Vox.

(Dieser Artikel erschien erstmals am 1. Januar diesen Jahres zum Start der Serie bei Sky)