Eigentlich hatte die aufstrebende Jungschriftstellerin Arabella sich geschworen, nüchtern zu bleiben, bis ihr neuer Roman fertig ist. Doch als ihr beim Starren auf die weiße Seite partout nichts einfallen will, gibt sie ihrer Ruhelosigkeit nach und geht aus – "nur auf einen Drink". Einige Zeit später wacht sie in ihrer Wohnung auf, wie aus einem heftigen Albtraum. Was dazwischen geschehen ist, bleibt ein unbestimmter Nebel, der sich mehr und mehr über ihr Leben legt.

Ungefiltert, roh, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, saugt Michaela Coel uns in ihre Welt hinein und in den zwölfteiligen Rausch namens "I May Destroy You". Das 33-jährige britische Ausnahmetalent spielt nicht nur Arabella, sondern ist auch Autorin, Regisseurin und Produzentin in Personalunion. Coel erzählt ein Stück weit ihre eigene Geschichte, und man ahnt ihre diebische Freude daran, die Grenzen zwischen Realität und hinzugedichteter Fiktion zu verwischen.

Dass sie selbst im echten Leben betäubt und vergewaltigt wurde, teilte sie 2018 beim Edinburgh TV Festival in einer bewegenden MacTaggart Lecture mit der versammelten Fernsehbranche. Die persönliche Erfahrung fließt in die Serie ein, hindert sie aber nicht daran, ihr Alter Ego Arabella zu einer völlig eigenständigen, mal schrillen, mal leisen, mal liebenswerten, mal abstoßenden Figur zu machen. Erst in der zweiten Folge zeichnet sich allmählich ab, was mutmaßlich passiert sein dürfte: ein gezielter Angriff in der Bar mit K.-o-.-Tropfen und anschließender Vergewaltigung. Die Frage nach dem Wer und Wie treibt Arabella fortan um. Ihre irrationale, depressive Persönlichkeit bringt es mit sich, dass sie dies im einen Moment kaum zu tangieren, im nächsten an den Rand ihrer Existenz zu bringen scheint.

Dennoch ist "I May Destroy You" weder Vergewaltigungs- noch Rachedrama, auch wenn Arabella mitunter zu harschen Formen von Rache greift. Die halbstündigen Episoden erzählen vielmehr eine aus dem prallen Londoner Leben gegriffene Dramedy mit klarem Tragik-Überschuss. Wo hört selbstbestimmte, freizügige Sexualität auf und wo fängt Missbrauch an? An dieser Frage arbeitet sich Coel ernsthaft und vielschichtig, aber nie verbissen ab. Arabella jedenfalls ist von einer Antwort darauf zunächst Lichtjahre entfernt, zumal sie sich viel lieber einreden würde, sie selbst habe mal wieder die Kontrolle über sich verloren.

Zwar ist Arabella die eindeutige Hauptfigur der Serie, und Coel sorgt mit ihrer Intensität und ihren bohrenden Augen dafür, dass man den Blick kaum von ihr abwenden mag. Doch auch ihre besten Freunde – Terry (Weruche Opia), eine ehrgeizige Schauspielerin, die zu nervös ist, um zu Castings zu gehen, und Kwame (Paapa Essiedu), ein schwuler Fitnesstrainer, regelrecht süchtig nach Dating-Apps und One-Night-Stands – erweisen sich als dramaturgische Stärke, weil sie das Bild einer verunsicherten Generation von Millennials zeichnen. Besonders aus dem Zusammenspiel der so gar nicht lebensklugen Freunde entstehen immer wieder äußerst komische Momente. Oft bleibt einem das Lachen wenig später im Halse stecken, weil es auch hier mal offener, mal verdeckter um das ständige Austarieren von Einverständnis und Übergriffigkeit geht.

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Coel will mit "I May Destroy You" provozieren und sogar Unbehagen verbreiten, und das gelingt ihr auch. Immer dann, wenn sie und Co-Regisseur Sam Miller psychologische Härte geradezu übertrieben lapidar in Szene setzen, muss man als Zuschauer schon mal tief durchatmen. Gerade mit dem Wissen im Hinterkopf, dass nicht alles frei erfunden ist. Wie viele Folgen am Stück eine erträgliche Binge-Dosis ausmachen, wird jeder für sich entscheiden müssen. Zugleich strömt die Serie aber auch eine ansteckende Lebendigkeit aus, die so vielen anderen Papierraschler-Drehbüchern fehlt, gepaart mit einer Faszination für die scheinbar ziellos zusammengeführten Erzählstränge, die doch nur die Innenwelt ihrer getriebenen Charaktere reflektieren. 

Michaela Coel, so viel ist klar, hat sich dieses Jahr in die globale Serien-Creator-Topliga katapultiert und in puncto Selbstbestimmung ein neues Level erreicht: Weil Netflix ihr nicht einmal fünf Prozent der Rechte an ihrem so persönlichen Werk überlassen wollte, zog sie den unterschriftsreifen Vertrag zurück und realisierte "I May Destroy You" lieber mit der BBC und HBO.

Die komplette Staffel steht ab sofort bei Sky Ticket und Sky Q zum Abruf bereit. Sky Atlantic zeigt "I May Destroy You" als Marathonprogrammierung am 24. Oktober ab 20:15 Uhr.