Surreal. Anders lässt sich diese 2015er Ausgabe der Fernsehmesse MIPCOM in Cannes nicht beschreiben. Bei strahlendem Sonnenschein und weit mehr als 20 Grad im Schatten war an der Côte d’Azur business as usual angesagt - obwohl nur einen Tag zuvor beim schwersten Unwetter der Region in mehreren Jahrzehnten mehr als 20 Menschen ums Leben kamen. Die wirtschaftliche Bedeutung der wichtigsten Fernsehmesse der Welt führte jedoch bei Einheimischen wie Besuchern zu dem gemeinsamen Wunsch, am lukrativen Fernsehspektakel festzuhalten.

Bei der Anreise tausender weiterer Messe-Besucher am Sonntag sah es noch so aus als seien vereinzelt gesperrte Straßen, herumgewirbelte Autos und von den Bergen herabgespülter Müll die einzigen Nachwirkungen der sinnflutartigen Regenfälle der Nacht zuvor. Abends dann offenbarte sich zunächst eine zunächst nicht so naheliegende Konsequenz des Unwetters: In und um Cannes ist das Internet weitgehend ausgefallen. In Zeiten von LTE-Internet über Handynetze klingt das unwirklich und in der Tat: Es ist nicht so, dass die Smartphones keinen Empfang mehr gehabt hätten.

Doch das war auch nicht das Problem: Die stationären Internetverbindungen waren gekappt. Hunderte Restaurants, Bars, Cafes und Hotels konnten somit keine Kartenzahlung mehr akzeptieren. Glücklich konnte sich der Gastronom und Hotelier schätzen, der seine Abrechnungstechnik übers Handynetz laufen lassen konnte. Alle anderen klebten kurzerhand Zettel an die Tür: „Heute keine Kartenzahlung“ - auf französisch natürlich. Richtig amüsant wurde der Ausnahmezustand in Cannes aber erst durch ein weiteres Problem: Auch die Geldautomaten der Stadt hatten keine Verbindung zum Netz - und waren somit außer Betrieb.

MIPCOM 2015© DWDL
Knapp 15.000 Besucher der MIPCOM - und die Einheimischen ebenso - kamen somit weder an Bargeld, noch ließ sich mit Karte zahlen. Ein ernstes Cashflow-Problem in der Fernsehbranche! Die Lösungen waren kreativ: Später anreisende Kollegen wurden informiert, sich noch am Flughafen in Nizza mit extra viel Bargeld einzudecken - und bitte etwas mitzubringen. Bei den abendlichen Geschäftsessen in den Restaurants wurde das restliche Bargeld zusammengeworfen oder aber der Personalausweis als Pfand hinterlassen. Hoffentlich haben sie ihren Ausweis inzwischen zurück, denn das Internet-Problem dauert auch am vierten Tag nach dem Unwetter noch an.

Wie gesagt. Es ist sehr surreal an der Côte d’Azur. Auch am Mittwochmorgen funktionieren die wenigsten Geldautomaten in Cannes. Immerhin. Am Sonntag und Montag ging schließlich gar nichts; am Dienstag waren nur einzelne Geldautomaten kurze Zeit verfügbar. Schnell bildeten sich davor entsprechend lange Schlangen. Wie ein Lauffeuer wurde die Nachricht vom funktionierenden Automaten herumgereicht - nachdem man sich selbst versorgt hatte. Mehr als 200 Euro gaben die Automaten jedoch nicht her. Ein bisschen Griechenland in Frankreich. Die Geschäfte, Bars und Restaurants der Stadt mussten also kreativ werden, um sich die so wichtigen Umsätze der an Bargeld armen Messe-Besucher nicht entgehen zu lassen.

Plötzlich hingen andere Zettel in den Schaufenstern: Kartenzahlung möglich! Drei von DWDL.de besuchte Technik-Geschäfte berichten von einem Ansturm auf Kreditkarten-Lesegeräte für Smartphones. Sie waren in allen Läden ausverkauft. Die Hotels vor Ort kämpften abwechselnd noch immer mit Wasserschäden oder fehlendem WiFi oder Beidem. Die erstaunlich lange andauernden Komplikationen nach den Regenfällen vom Samstagabend waren dann auch wenig überraschend das dominierende Thema dieser MIPCOM. Die interessierte Leserin und der interessierte Leser mag sich fragen: Geht es hier auch noch um Fernsehen? Ein bisschen.

Natürlich ging es bei der MIPCOM 2015 auch um bewegte Bilder. Doch trotz einer spürbar belebten Atmosphäre bleibt die größte Fernsehmesse der Welt in diesem Herbst ohne wirkliche Impulse. Ohne jede Frage dominiert die Highend-Serie weiterhin den Markt. Eine unglaubliche Vielzahl von ambitionierten Serienprojekten kämpfen in Cannes um die Aufmerksamkeit und Gunst des Fachpublikums. Hier setzt sich ein bekannter Trend fort, der im Tempo seiner Steigerung spätestens im kommenden Herbst zur Frage der Übersättigung führen dürfte.

MIPCOM 2015© DWDL

Auch deshalb wäre ein Impuls aus der non-fiktionalen Unterhaltung wichtig. Doch nachdem in Cannes zuletzt „Rising Star“ und „Newtopia“ fälschlicherweise als große Hits ausgemacht wurden, ist die Branche zögerlicher. Die MIPCOM 2015 wird am morgigen Donnerstag aller Voraussicht nach ohne einen besonders vielversprechenden Hit enden. Es ist allenfalls ein Genre, das auffällt: Emotainment. Formate in denen die Geschichten echter Menschen erzählt werden - ohne jeden Wettbewerb. Einige der spannendsten Formate werden wir am Donnerstag bei DWDL.de vorstellen.

Die deutschen TV-Exporteure können durch die Bank recht zufrieden nach Hause fliegen - vorausgesetzt natürlich, sie haben ihre Schulden bei den Gastronomen oder Hotels beglichen. An Meldungen einzelner Verkäufe nach hier und dort mangelte es in den vergangenen Tagen nicht; die neue deutsche Serienwelle wird durchaus im Ausland wahrgenommen. Doch viel wichtiger wird in den kommenden Wochen und Monaten jetzt erst einmal das Heimspiel: Produktionen wie „Weinberg“, „Club der roten Bänder“ oder „Deutschland 83“ müssen das deutsche Fernsehpublikum überzeugen - mal in der Masse, mal in der Nische.