Mitten in die Urlaubszeit beim WDR platzte Ende vergangene Woche ein eher ungewöhnlicher Brief. Zugestellt wurde er anonym ohne Absenderangaben per Post, ist aber letztlich ein ausgedruckter Entwurf einer eMail. Erhalten haben ihn WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn und der WDR-Rundfunkrat. Als weitere Empfänger der ausgedruckten eMail sind in CC über 60 weitere Namen genannt. Zumindest einige der angegebenen Personen haben den offenen Brief nach DWDL.de-Informationen ebenso erhalten.

Das Schreiben mit dem Betreff „MeToo-Vertuschung“ richtet sich in der Ansprache an Jörg Schönenborn, hat aber seit vergangenem Freitag im WDR bereits die Runde gemacht, was ganz offensichtlich das Ziel war. Die Verfasserin („Anonyma“) sagt über sich selbst, sie sei seit vielen Jahren Mitarbeiterin des WDR, weil sie aber berufliche Konsequenzen fürchte, wolle sie anonym bleiben. Die Motivation des Schreibens liege in dem Wunsch, dass der „MeToo-Skandal nicht einfach ausgesessen wird“.



Es folgt eine detaillierte Schilderung der schon bekannt gewordenen Vorwürfe gegen zwei WDR-Mitarbeiter, die auch namentlich genannt sind. Während diese, wenn auch Jahre zu spät, inzwischen Konsequenzen zu spüren bekamen, hätte Schönenborn selbst keine Konsequenzen gezogen, so der Vorwurf, der sich wie ein roter Faden durch das ganze Schreiben zieht. „Schließlich waren Sie es als damaliger WDR-Chefredakteur, der sich offenkundig schützend vor die Redakteure stellte, als die jeweiligen Vorwürfe wdr-intern bekannt wurden.“

Vorwürfe, die Jörg Schönenborn im April bereits zurückgewiesen hat. In einem Interview mit der dpa erklärte er: „Damals gab es in der Tat von einem Kollegen einen Hinweis, und die damalige Geschäftsleitung hat dann eine sehr aufwendige Untersuchung initiiert. Am Ende hatten wir aber weder einen konkreten Vorwurf, noch namentliche Opfer. Es war zu diesem Zeitpunkt dann auch notwendig, deutlich zu machen, dass ohne Belege diese Anschuldigungen gegenüber Dritten nicht weiter erhoben werden sollten.“

Die Verfasserin des Schreibens will das nicht gelten lassen. Im Falle eines inzwischen gekündigten  WDR-Mitarbeiters seien sogar schon Anfang der 90er Jahre Vorwürfe erhoben und Vorgesetzten gemeldet worden, so „Anonyma“. Mit anderen Worten: Das bei erneuten Vorwürfen Jahre später dann keine Alarmglocken geläutet hätten, sei unglaubwürdig. Dass ein weiterer im Visier von Vorwürfen stehender Mitarbeiter nun in den Hörfunk versetzt sei, erinnere an den Umgang der Katholischen Kirche, die Täter vor der Strafverfolgung in Klöstern verstecke.

Es ist ein wütender Brief, aber rhetorisch wohl formuliert. Er ist beinahe irritierend pointiert geschrieben und nutzt als zentralen Vorwurf eine wirkungsvolle Argumentation: „Bei jedem Minister, bei jedem Vereins- oder Kirchenfunktionär, bei jedem Manager hätten Sie als Kommentator das Einstehen und den Rücktritt für solch ein massives Führungsversagen und Vertuschen gefordert. Und das zu Recht. Gilt das nicht auch für Sie?“, fragt die Verfasserin des offenen Briefes mit dem Pseudonym Anonyma.

Danach schließt die mutmaßliche Verfasserin des anonymen Schreibens mit deutlicherer Sprache: „Sie schaden vor der ganzen Öffentlichkeit dem Bild des WDR als einem gutem und verantwortungsvollem Arbeitgeber, seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, und Sie schaden nicht zuletzt der journalistischen und - ja, auch das - moralischen Reputation des Senders.“ Starke Worte, die - wie man dem Empfängerkreis des Schreibens entnehmen kann - Eindruck machen sollen beim WDR-Rundfunkrat. An ihm hängt in den kommenden Monaten die noch ausstehende Vertragsverlängerung von Programmdirektor Schönenborn, dessen laufender Vertrag im April 2019 endet.

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Es wurde schon im Frühjahr eine Abstimmung über die Vertragsverlängerung erwartet, doch WDR-Intendant Tom Buhrow wollte aufgrund der damals ganz akuten Vorwürfe des Machtmissbrauchs im WDR und deren Aufklärung die Personalien - auch Hörfunkchefin Valerie Weber wartet noch auf Vertragsverlängerung - vorerst aufschieben. Vor diesem Hintergrund wirkt das jetzt vorliegende anonyme Schreiben wie ein Versuch, noch einmal auf die Mitglieder des Rundfunkrats einzuwirken.

Auf Anfrage des Medienmagazins DWDL.de bestätigte der WDR am Montag die Existenz des anonymen Briefes, sieht aber in erster Linie eine Kampagne gegen Schönenborn. „Er enthält keine neuen Hinweise, denen nachgegangen werden könnte“, erklärt eine Sprecherin des Senders. „Wie der WDR mit Hinweisen auf sexuelle Belästigung umging und umgeht wird z.Zt. von Frau Monika Wulf-Mathies unabhängig untersucht. Sie hat diesen Brief vom WDR zur Kenntnis erhalten.“

In der Tat sind anonyme Briefe zunächst mit Vorsicht zu genießen. Die Kenntnis interner Vorgänge zeugt bei der mutmaßlichen Verfasserin jedoch von Kenntnis der Abläufe im WDR. Ihr geht es nach eigener Aussage um Schönenborns persönliche Konsequenz der #MeToo-Fälle. Im Flurfunk des Kölner Senders wird jedoch auch gemutmaßt, ob es wirklich in erster Linie um moralische und ethische Fragen geht oder diese nur eine genutzte Gelegenheit sind, den zuletzt im Haus weniger geliebten Fernsehdirektor los zu werden.

Einen neuen Termin für eine Abstimmung über die Vertragsverlängerung gibt es noch nicht. Der WDR-Rundfunkrat ist bis Ende August aber auch noch in der Sommerpause. Er könnte ohnehin jedoch erst über die Verlängerung von Schönenborns Vertrag abstimmen, wenn Intendant Tom Buhrow dies vorschlägt. DWDL.de stellte dem WDR am Montag vier Fragen zu dem Schreiben. „Steht WDR-Intendant Tom Buhrow hinter Fernsehdirektor Jörg Schönenborn?“, war eine davon. Sie blieb unbeantwortet.

Es mag daran liegen, dass der Intendant derzeit in Übersee ist. Auch Jörg Schönenborn ist gerade im Urlaub.