Der Ablauf am morgigen Landtagswahlsonntag steht: Im Ersten wird von 17.30 Uhr an MDR-Moderatorin Wiebke Binder Wortblasen aus Sachsen-Anhalts Spitzenpolitik abschöpfen, während Graf Zahl aka WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn Prognosen und Hochrechnungen auf dem Touchscreen hin und her wischt. Erstmals live dabei, wenn auch nur in der Kulisse: Schönenborns Amtspendant beim MDR, Klaus Brinkbäumer. Dessen Programmdirektion in Leipzig führt mit Regie bei diesem Magdeburger Wahlkrimi, in dem sich CDU und AfD hauen und stechen. Keine Frage, nach dem "Polizeiruf" aus Halle vorigen Sonntag wieder ein Höhepunkt im Programmjahr des MDR, den sich der ehemalige "Spiegel"-Chefredakteur selbstverständlich "nicht entgehen lassen will".

Exakt 143 Tage wird Klaus Brinkbäumer dann schon in Amt und MDR-Würden sein. Wir sind also ein bisschen spät dran mit der üblichen Hundert-Tage-Bilanz. Aber egal, Leinen los!

Seemanns Sprech muss sein. Geht nicht anders, wenn sich ein paar Tage zuvor hinter der Video-Silhouette des Programmdirektors ein Segelboot vor der Skyline Lower Manhattans aufdrängt. Seit dem Aufnahmedatum vor ungefähr zehn Jahren reist dieses Bilddokument Brinkbäumer‘scher Segelleidenschaft (die Regatta um die Freiheitsstatue wurde gewonnen!) mit seinem Besitzer um die Welt. Derzeitiger Aufenthaltsort: das Büro im zwölften Stock des MDR-Hochhauses in der Leizpiger Südvorstadt. Er habe es nur aufgehängt, weil er nicht drauf zu erkennen sei. Der Mann hinten an der Pinne, das sei er. Wie passend.

Klaus Brinkbäumer © MDR/Stephan Flad
Dem Kapitän, der das Ruder in Leipzig hält (in der MDR-Programmdirektion in Halle heißt die Kapitänin Jana Brandt), gelingt es trotz Manhattan-Feeling de luxe nicht zu verhehlen: Leipzig ist nicht New York. Das Herz schlägt noch immer in Amerika. Dort, wo er als New York-Korrespondent des "Spiegel" und zuletzt als Freelancer für "ZEIT" und "Tagesspiegel" seine beruflich bisher glücklichste Zeit verbrachte (und auch sein Sohn geboren wurde). Und auch der Kopf verweilt sehr oft in Übersee. Er muss es auch, rein beruflich. Denn seinen bei "ZEIT Online" gestarteten Podcast "OK, America?" (mit Rieke Havertz) nahm er zum neuen Arbeitgeber mit; der MDR ist seit Februar Ko-Produzent. Hört man Brinkbäumer dort zu und folgt ihm auf Twitter, könnte man glatt meinen, er wisse besser Bescheid über Post-Trump-Amerika als die Geschehnisse im Sendegebiet des MDR.

Corona hat es schwer gemacht, in Leipzig anzukommen, gibt Klaus Brinkbäumer offen zu. Er, der in Münster geborene Westfale und weit gereiste Kosmopolit, zog im vorigen Winter in die Sachsen-Metropole und fand verschlossene Türen vor. "Die Stadt war still und einsam, das hatte etwas Gespenstisches." Aber inzwischen ist Frühling, die Pandemie weniger bedrohlich, Leipzig lebt wieder. "Und ich bin nun voll und ganz hier", sagt er.

Das finden, um es amerikanisch auszudrücken, nicht alle okay.

Schon vor Brinkbäumers Wahl im Dezember im MDR-Rundfunkrat kam Kritik auf, warum Karola Wille, die Intendantin und einzige Ostdeutsche an öffentlich-rechtlicher Topspitze, sich ausgerechnet einen Wessi als Nachfolger für den Ossi Wolf-Dieter Jacobi auf den Direktorenstuhl in Leipzig herbeiwünschte. Solche Diskussionen will Brinkbäumer selbst "hier in keiner Sekunde erlebt" haben, stattdessen "Aufbruchstimmung", "Teamgeist und Einsatz". Der MDR habe ihn "willkommen geheißen". Aber was ist mit der Politik?

Pünktlich zum Wahlsonntag in Sachsen-Anhalt haben Medienpolitiker der Linkspartei ihr Forderungspapier "Ein Sandmännchen allein macht noch keinen Sommer" publik gemacht: Achtzig Millionen Euro solle die ARD aus ihrem Milliarden-Etat bitteschön zusätzlich fürs ostdeutsche Fernsehen abzwacken, denn sowohl Programm als auch Personal seien "westdeutsch dominiert". Nur zwei von 21 öffentlich-rechtlichen Programmdirektoren und -geschäftsführern kämen aus Ostdeutschland. Skandal im Ostbezirk! Oder nur klassischer Wahlkampfradau?

Gewählt wird in jenem Bundesland, aus dem am 8. Dezember das Nein zur Erhöhung des Rundfunkbeitrags kam–und damit exakt einen Tag nach dem Nu (das sächsische Ja) des MDR-Rundfunkrats zu Klaus Brinkbäumer. Eine Kausalität soll hier keineswegs konstruiert werden. Die zeitliche Korrelation zeigt aber, wie hart am Wind Brinkbäumer seither segeln muss. Nicht zuletzt Nein-Sager Rainer Haseloff, der Noch-und-vielleicht-bald-wieder-Ministerpräsident in Magdeburg, hatte in den Chor eingestimmt, ARD und ZDF seien "in vielen Sparten Westfernsehen geblieben".

"Der Ministerpräsident hat Unrecht in diesem Punkt"

Hat Haseloff da einen Punkt? So viel öffentlich-rechtliche Corporate Identity ist auf den frisch aus der privatwirtschaftlich finanzierten Verlagswelt kommenden Klaus Brinkbäumer schon übergegangen, dass er pflichtgemäß antwortet: "Der Ministerpräsident hat Unrecht in diesem Punkt." Es folgt eine längere Begründung, die wir hier auf die Aussage verkürzen: Der MDR werde innerhalb der ARD "nicht untergebuttert", sondern komme "zur Geltung" und genieße als "erfolgreichstes Drittes Programm" das Vertrauen eines "treuen Publikum".

Wie er wiederum das Vertrauen von Karola Wille erwarb, hätte man gerne von ihm erfahren. Doch das müsse "intern bleiben, es gab ein Auswahlverfahren". Dass es gut für ihn ausging, sei für ihn "das Schönstmögliche" gewesen. "Ich will das nicht verkitschen, aber nach meiner Amerika-Erfahrung war dieser Schritt stimmig: genau dieser Ort und genau diese Rolle." Es folgt ein Exkurs darüber, wie wichtig eine öffentlich-rechtliche Welt für den Erhalt einer Demokratie ist und welche Gefahr droht, wenn zwischen zwei Flügeln die Mitte fehlt. "Wir sollten in Deutschland aufpassen", mahnt Brinkbäumer (wie schon zuvor hier und dort).

Unkitschig kann er gleichwohl auch: "Nach meiner Zeit beim ,Spiegel‘ wäre die Alternative, klassische Zeitungs- oder Zeitschriftenverlage, weniger aufregend gewesen." Die Aufregung, die er beim Hamburger Magazin erlebte, ist in der Tat kaum zu toppen.

25 Jahre seines Berufslebens verbrachte Brinkbäumer beim "Spiegel", die letzten drei davon als Chefredakteur, bis er im August 2018 unter lautem Getöse – geräuschlos können die in Hamburg einfach nicht – herausflog. Angeblich ging es Gesellschaftern und Geschäftsführung zu langsam mit der Umsetzung des "Projekts Orange", also der Zusammenlegung von Print- und Online-Redaktion. Dass ihn letztlich dasselbe Ex-und-Hopp-Schicksal ereilte wie seinen Vorgänger Wolfgang Büchner, darunter soll Brinkbäumer lange gelitten haben. Das Noch-immer-Leiden erahnt man, wenn er sagt, was er beim MDR enorm schätze: strategische Klarheit und Absprachen, die gelten. "Wenn Karola Wille Ihnen etwas zusagt, dann wissen Sie, das wird genauso und pünktlich geschehen. Das war in meiner beruflichen Vergangenheit nicht immer und nicht überall so."

Just in dieser Woche hat ihn die Vergangenheit wieder eingeholt. Claas Relotius, der "Jahrhundertfälscher" vom "Spiegel", tauchte im Interview mit einem Schweizer Magazin wieder auf nach zweieinhalbjährigem Schweigen über den Medienskandal, den er verursacht hatte. Brinkbäumer war zwar schon weit weg, als Relotius kurz vor dem Weihnachtsfest 2018 aufflog, aber davor war er sein Chefredakteur. Wie er heute darüber denkt? "Ich habe aus der Affäre gelernt, stets wachsam und aufmerksam für Details zu sein", antwortet Brinkbäumer knapper als knapp.

Klaus Brinkbäumer © MDR/Stephan Flad
Mit diesem "Learning" im Gepäck dürfte er sehr genau auf die Details achten in Bully Herbigs neuem Kinofilm über die 1000 Zeilen Lügen des Claas Relotius, der gerade entsteht. Die "Bild"-Zeitungdeckte am Donnerstag nicht nur weiteres Schauspieler-Personal auf, sondern stellte dazu auch die Fotos der Original-"Spiegel"-Köpfe, die als Vorlage für die Filmstory dienen. Über Brinkbäumers Kopf stand, gar nicht nett, "Der Wendehals" mit der Bemerkung, er habe sich bei der Enthüllung des Schwindlers "beim Segeln entspannt".

An dieser Stelle kurze Rückblende in einen anderen "Film", in den Dezember 2020, als der MDR-Rundfunkrat Klaus Brinkbäumer wählte. 30 Ja- und 8 Nein-Stimmen erhielt er. Die nicht-öffentliche Fragerunde dauerte länger als geplant. Vermutlich wollten die Rundfunkratsmitglieder abklopfen: Kann er überhaupt Fernsehen?

Eine berechtigte Frage, die sich zuvor schon die Doku-Verantwortlichen von NDR, SWR und rbb gestellt hatten. Bei ihnen wurde der Dokumentarfilm-Novize Klaus Brinkbäumer im Winter nach seinem "Spiegel"-Rauswurf vorstellig, gemeinsam mit seinem von ihm selbst ausgewählten Lehrmeister Stephan Lamby, um beider Projekt "Im Wahn – Trump und die Amerikanische Katastrophe" zu pitchen. "Natürlich wurde da gefragt, wie soll das gehen?", erinnert sich der vielfach dekorierte Lamby, als man ihn in Hamburg erreicht. "Ich glaube, dass es schon geholfen hat, dass ich dabei war." Nicht als Pate, sondern als Teil eines Teams versteht er sich. "Klaus und ich waren von Anfang an gleichberechtigt. Sowohl beim Film wie beim Buch, das parallel entstand."

Die "vertrauensschaffende Maßnahme gegenüber der ARD" wirkte. Brinkbäumer und Lamby fingen gemeinsam an, vor Ort in den Staaten zu recherchieren und zu drehen. Als aber New York wegen Corona im Chaos versank und Trump die Grenzen dicht machte, konnte Lamby nicht mehr ins Land. Der "arme Klaus" war plötzlich allein zu Haus im Big Apple und wurde von Lamby, der in Hamburg festsaß, quasi ferngesteuert. "Für ein Erstlingswerk unter Pandemie-Bedingungen war das Hardcore", sagt der Doku-Profi. Er betont aber auch, dass es für beide eine "sehr lehrreiche und sehr angenehme" Erfahrung gewesen sei.

Beide denken über eine Fortsetzung ihrer Kollaboration nach. Doch während Lamby erstmal seine filmische Solo-Kraft den zwei Kanzlerkandidaten und der einen Kanzlerkandidatin schenkt (seine 75-minütige Langzeitbeobachtung "Momentum – Deutschland im Wahljahr" soll am Montag vor der Bundestagswahl im Ersten laufen), muss Brinkbäumer Fahrt aufnehmen in seinem eigentlichen Job. Auf Seemannsdeutsch: Er muss die Segel hissen.

Mehr Investigatives geplant

Beim eingangs erwähnten "Polizeiruf" aus Halle hatte MDR-Programmdirektor Brinkbäumer zwar nicht mehr viel zu melden außer in der Endabnahme, wo er eingriff: Eine Zeile wurde straffer und pointierter. "Überschriften zu formulieren habe ich jahrelang geübt, für irgendwas muss das ja gut sein", sagt er. Dafür war sein Anteil größer an der Entscheidung, dass die MDR-Talkshow "Riverboat" künftig gemeinsam mit dem rbb "fährt und ankert". Ihm zufolge habe man "exemplarisch" entschieden: "Wenn wir innerhalb der ARD noch besser zusammenspielen, gewinnen wir Freiraum für anderes."

Formate auf der politisch-journalistischen Ebene möchte Brinkbäumer ausbauen und auch den Bereich Investigativ-Recherche verstärken und systematisieren, wo zuletzt einige Kräfte über Bord gegangen waren. Auch über mögliche Netzwerke des MDR denkt er nach, will aber darüber "nicht prophylaktisch reden": "Investigative Arbeit sollte man nie ankündigen im Sinne von, wir machen die nächsten Panama Papers. So ein Netzwerk sollte sich finden und einander vertrauen lernen." Kurz: "Wir gehen erst einmal an die Arbeit."

Was Brinkbäumer also noch als "Spiegel"-Mann lautstark kritisierte – den ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil, den die "Süddeutsche Zeitung" aus dem Rechercheverbund mit NDR und WDR zieht – sieht er nun im neuen Job, nun ja, entspannter. Der Frage, wie sich sonst noch seine Perspektive auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verändert habe, seit er selbst dort in Arbeit ist, könnte er nur mit einem zweistündigen Antwortvortraggerecht werden, sagt er. Er versucht es zum Glück komprimiert: "Was ich wahrnehme, ist eine enorm vielseitige Kompetenz."

Ernüchtert wie einst Günther Jauch, der über die ARD-"Gremlins" schimpfte, will Klaus Brinkbäumer nach eigener Aussage keineswegs sein: "Schnell und schlagkräftig sind wir, aber die Frage, ob wir schnell und schlagkräftig genug für die Herausforderungen sind, vor denen wir stehen, kann ich noch nicht beantworten. Dafür ist die Zeit zu kurz." Er selbst gehe "wirklich kampfeslustig und leidenschaftlich" an die Sache ran.

Aus Japan, wo er mit seiner Frau, der "Zeit"-Redakteurin Samiha Shafy, für ein Buch mit Hundertjährigen über deren langes Leben und Weisheiten sprach, brachte er das "Ikigai" mit. Das ist so etwas wie der Grund, weshalb man morgens aufsteht. Ob der MDR für ihn nun dazu gehört? Da muss Brinkbäumer lachen: "Das müssen wir in fünf oder zehn Jahren noch mal besprechen. Es fühlt sich im Moment so vielseitig wie im multimedialen Sinne hochmodern an, so aufregend auch, als könne es zum Ikigai werden."

Bis zu seinem Hundertsten bleiben dem MDR-Programmdirektor vom heutigen Samstag an noch 46 Jahre und 236 Tage, bis zur Wiederwahl im Rundfunkrat fünf Jahre minus 142 Tage. Inklusive ein paar Gelegenheiten, um vom Hafen des Yachtclub Markkleeberg, in dem er Neu-Mitglied ist, abzulegen raus auf den Cospudener See vor Leipzigs Toren. Mast- und Schotbruch!