Foto: DWDL.deSie legte schon los, da war die wirklich gelungene Titelmelodie und der Applaus noch nicht einmal verklungen: Anne Will hatte es am Anfang etwas eilig. Wer kann es ihr verübeln nach der langen Vorbereitung. Nach all dem, was schon geschrieben wurde. Da will man endlich loslegen. Und das tat sie dann auch schneller als die Tontechnik erwartet hatte und fast so rasant wie am Ende der Abspann fast unlesbar durch das Bild rauschte. Sie stellte zunächst ihre Gäste vor. Darunter NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, Telekom-Chef René Obermann, die evangelische Landesbischöfin Margot Käßmann und SPD-Chef Kurt Beck. Letzterer ganz modisch mit Krawatte in den Farben des Studios. Eine ökonomisch sinnvolle Anschaffung: Die kann er künftig auch bei Sandra Maischberger tragen.

Das Studio von Anne Will wirkt so beige wie bieder und dem Studio von Maischberger eben verdächtig ähnlich. Ein frischer Wind sieht anders aus, dafür kehrt sehr schnell Gemütlichkeit ein, die sich später auch nicht mehr verscheuchen lässt. Nun macht jeder der etwas neu macht, auch immer irgendetwas anders. So auch Anne Will und ihr Team. Es gibt zwei Sofas für den durchschnitlichen Bundesbürger unter den Alpha-Tieren. Hier saß bei der Premiere u.a. Kerstin Weser, Mitarbeiterin eines Call-Centers. Gleich zu Beginn versuchte Will im Gespräch mit ihr eine Betroffenheit in der Gemütlichkeit zu schaffen, was irgendwie nicht klappen wollte. Natürlich zeigten sich die vier prominenten Gäste auf der Bühne erwartungsgemäß beeindruckt von Frau Weser. Doch die Idee den Politikern die Realität auch im Studio vor Augen zu führen - sie wirkte etwas zu gewollt.

Immerhin gaben die beiden Sofas zwischen Publikum und Bühne der Gastgeberin die Gelegenheit die Größe ihres Studios zu demonstrieren. In der Totale wirken die fünf roten Drehsessel auf der großen Bühne des Studios in Berlin-Adlershof aber fast etwas verloren. Vielleicht hätte sich Anne Will - so unter Frauen - mal bei Anke Engelke erkundigen sollen. Dann hätte sie gewusst, wie man ein Studio kleiner und weiblicher machen kann. Obwohl das bei Sat.1 damals auch wenig half.
 


Wie ging es weiter? Obermann redete von der Notwendigkeit der Rendite, Beck und Rüttgers wollen Arbeit und Wohlstand für alle - nur auf unterschiedlichen Wegen. Frau Käßmann ergänzte ehrenhafte Absichten und Moral. Polittalk wie zu Christiansens Zeiten. Als sich Kurt Beck und Jürgen Rüttgers dann zum ersten Mal streiten, tun sie das allerdings seltsam leise und anständig. Man könnte meinen die beiden Streithähne wollen als Premierengäste artig sein. Das Publikum beklatscht nach jeweiliger Sympathie zaghaft, Anne Will schweigt bei dem Dialog kurzzeitig völlig. In diesem Duell Beck gegen Rüttgers zeigt sich gleich zweierlei: Wie unwichtig die Moderatorin ist - was neulich erst Sandra Maischberger betonte - und dass weniger Gäste wertvoller sein können als zu viele, die dann nur als gelangweilte Zuhörer eines Duells Beck gegen Rüttgers in der Runde sitzen. Dazu kommt ein weiteres Problem: Es wird im weiteren Verlauf immer wieder auf zwei völlig unterschiedlichen Ebenen diskutiert. Mal geht es um Parteipolitik, mal um ehrenwerte Forderungen und Appelle denen sich dann alle anschließen. Harmonie und Gemütlichkeit wohin man schaut.

Dazu passte irgendwie schon wieder Wills sympathische Tonart. Sie hat eine therapeutische Wirkung - auf Gäste und die Zuschauer im Studio und vor den Fernsehern. Wills Stimme vermittelt Harmonie und eine gewisse Melodie. Ob dies in einer politischen Talkshow auf Dauer das gefragteste Talent sein wird, bleibt aber abzuwarten. Immerhin ergab sich unter Wills Moderation ein angenehm zu verfolgendes Gespräch. Und doch: Als kurz vor dem Ende Kurt Beck noch einmal zur Höchstform aufläuft, fühlt man sich an die verbalen Krawallattacken bei Sabine Christiansen erinnert. Und das nicht zwingend nur negativ. Zu brave Politiker und dazu lauter gute Absichten und Geschichten, wie aus dem Leben gegriffen? Das allein macht keinen Polittalk aus.

Foto: ARDDie Premiere von Anne Will hatte im Wesentlichen aber ein ganz anderes Problem: Gespräch und Bildsprache passten nicht zusammen. Schaut man sich die Sendung noch einmal genau an, kann man z.B. bei einer Antwort der evangelischen Landesbischöfin Margot Käßmann, gut eine Viertelstunde nach Start der Sendung, gleich 17 Kamerawechsel in nur 70 Sekunden feststellen können. Und nur zehn Minuten später nochmal, wieder bei Käßmann: Elf Kamerawechsel in weniger als einer Minute. Zwischendrin wird auch mal bei Kurt Beck sehr hektisch gewechselt: Er antwortet in 70 Sekunden mit gleich zwölf Kamerawechseln. Nahaufnahmen, Studiototale, Publikum: Die Bildregie hatte es bei Anne Wills Premiere sehr eilig.

So wirkte die Sendung in der Bildsprache hektisch, was dem gemächlichen Gespräch so gar nicht ähneln wollte. Wer den Erkenntnisgewinn bei der Premieresendung vermisst hat, auch wenn Anne Will am Ende davon sprach, etwas "herausgearbeitet zu haben", dem sei empfohlen auch morgen Abend Das Erste einzuschalten. Dann gibt es wirklich "Kluge Vögel", wie ein Programmtrailer für die Tierdokumentation unmittelbar vor Anne Wills Premiere wissen ließ. Da wird auch ganz sicher ruhiger gefilmt.

"Wir sollten uns auch weiterhin auf allen Vieren anstrengen", sagte Telekom-Chef René Obermann im Laufe der Premierensendung und hätte damit beinahe den Preis für den besten Spruch des Abends gewonnen. Immerhin verdrängt er Anne Wills erstaunliche Abschiedserkenntnis "Es war die erste Sendung, es sollen andere folgen" auf Platz 3. Doch der verbale Höhepunkt des Abends kam unumstritten von SPD-Chef Kurt Beck. Er an Rüttgers: "Was sie sagen, hat mit der Wirklichkeit der Unionspolitik so viel zu tun wie 'ne Kuh mit der Strahlenforschung."

Die Reaktionen des Publikums im Studio auf solche Sprüche und fast jede Argumentation war eher verhalten, um es nett zu formulieren. Aber wer sich zur Premiere nun einmal geladenene Gäste holt, der darf sich auch nicht wundern, dass sich ARD-Verantwortliche, Verwandte, Bekannte und Kollegen auf den Zuschauerrängen nicht besonders energisch für die ein oder andere politische Position ins Zeug legen. Das laue Thema tat sein Übriges zur Stille im Studio. Aber vielleicht kann das auch eine Stärke der Sendung sein. Vielleicht muss man sich daran erst gewöhnen.

Von der ungewohnten Ruhe und Harmonie abgesehen, bot die Premiere von Anne Will am Ende genau das, was auch Sabine Christansen bis zu ihrer letzten Sendung geboten hat: Genügend Gründe sich über die Sendung aufzuregen. Dies wird das Feuilleton am Montag und Dienstag auch noch in aller Ausführlichkeit tun. Politdeutschland kann dafür aufatmen, weil sich an der Werbestunde am Sonntagabend auch unter der Leitung von Anne Will nichts Maßgebliches ändert und so mancher Durchschnittszuschauer mag sich noch kurz gewundert haben, dass Sabine Christiansen am Sonntag irgendwie anders aussah, bevor er nach dem gelernten Gute Nacht-Programm im Anschluss an den "Tatort" eingeschlafen ist.