Wo ist sie denn, die gute neue Comedy? Immer seltener im Fernsehen. Aus mehreren Jahren Jury-Erfahrung beim Deutschen Fernsehpreises lässt sich sagen: Der Nachschub ist hier auffällig dürftig, wie auch der langjährige Jury-Vorsitzende Wolf Bauer schon öffentlich bekundete. Dabei ist die neue deutsche Comedy nicht weg, nur woanders. „Grüß Gott, hallo“ - bei TikTok, Instagram und Co. Willkommen in einer - mehr oder weniger - neuen Form, die uns Talente beschert, die im TV möglicherweise nie Entwicklungsfläche bekommen hätten.
Schnelle Gags, kurze Sketche und pointierte Punchlines - eigentlich war das Comedy-Genre immer schon eins, das in seiner Kürze den besonderen Reiz hatte. Für das Medium TV wurde jedoch über Jahrzehnte gesammelt, um es auf eine für die Werbevermarktung geeignete Mindestlänge von mindestens 30 Minuten brutto zu strecken. Sketchcomedys etwa, de facto Nummern-Revues. Auch Formate wie „Wochenshow“ oder „RTL Samstag Nacht“ sind letztlich eine Ansammlung von Gags, gut kuratiert und kumuliert. Comedy, einst dominantes Genre im TV, findet dort jedoch oft nur noch in Form redaktionell aufwendiger Produktionen - dann meist öffentlich-rechtlich - oder als abgefilmte Bühnenprogramme.
Comedy-Formate sind selten geworden, „LOL“ bestätigt als seltene Ausnahme in den vergangenen zehn Jahren die Regel. Wer den schnellen Lacher will, der muss ins Netz. Ohne große Comedyclub-Kultur in Deutschland sind TikTok und Instagram längst zur Schule einer neuen Generation, einer neuen Kultur von Comedy geworden. Sie ist geprägt von Tempo, von weniger Perfektion bei der Inszenierung, umso mehr aber beim Timing. Und einer neuen Spielform der endlosen Vorlagen: Stitches; Reaktionen auf Videos anderer, eine der Kernfunktionsweisen von TikTok. Wo früher noch die Rechte am Ursprungsmaterial geklärt wurden, wird in Social Video schon gelacht: Ein schnelles und schnelllebiges Medium, mit entsprechenden Anforderungen an erfolgreichen Humor.
Und das beherrscht sie wie kaum eine andere in Deutschland: Merve, im Netz aktiv als mervegsteuer. Der reale Name? Unklar. Im Grunde aber auch egal, demonstriert es doch nur, dass hier Karriere von zuhause und ohne großen Namen möglich ist. Es zählt nur, was geliefert wird. Und das ist enorm bei mervegsteuer. Mit etablierten Rubriken, spontanen Reaktionen und Alltagsempörungen füllt sie ihre Kanäle und hat in diesem Jahr nicht nur viel Liebe in den Kommentaren, Anerkennung und Preise bekommen - sie hat für 2026 auch ihre erste Tournee angekündigt, die ruckzuck ausverkauft war. Wenn gleich noch abzuwarten bleibt, wie sich der Humor vom schnell geschnittenen Frontalunterricht im Hochkantform auf die Bühne übersetzt: Was für ein Erfolg erst einmal für mervegsteuer und ihren sehr eigenen Stil.
Es sind keine Sketche, wie sie so oft gespielt werden auf TikTok. Es sind messerscharfe Analysen des Alltags in und außerhalb dieser App - ein Korrektiv für die absurdesten Auswüchse dieses Mediums. Ihre wortgewandten Ausbrüche der Empörung oder Belustigung, die bei Tempo, Tonlage und Bissigkeit oft in einem atemlosen Finale gipfeln, sind unmittelbar. Vorgetragen mit einer Leichtigkeit als wäre alles spontan, dabei beweisen manche irrwitzigen Einschübe mit einer Liebe zu absurden Details, dass mervegsteuer nicht viel dem Zufall überlässt. Und darüber hinaus ihre Popularität einsetzt um Themen wie Diversität auf eigene Art zu thematisieren. Dabei bricht sie immer wieder mit Klischees und Erwartungen. Sie selbst beschreibt es als "eine Mischung aus Stand Up, improvisierten Dialogen, inneren Stimmen, Figurensketches und Crowd Work" - bei dem man sich tatsächlich am Ende oft fragt: Was hab ich da gerade eigentlich angeschaut?
Ganz nebenbei ist sie damit auch eine der erstaunlich wenigen Content Creator, die Brand-Partnerschaften und Werbebotschaften mit Kreativität und Treffsicherheit umsetzt. Eine Seltenheit beim Scrollen durch TikTok oder Instagram, sogar bei vermeintlich professionellen Werbespots im TV, bei denen Kreativagenturen erschreckend oft mit einer Mischung aus Dilettantismus und Arbeitsverweigerung aktiv ihren Beitrag dazu geleistet haben, dass TV-Werbepausen an Attraktivität verloren haben. Egal also ob deutsche Comedy oder Werbung, ob aus Publikumssicht oder Branchenperspektive: Wir alle könnten mehr mervegsteuer gebrauchen. Ein Talent mit Timing und Eloquenz beim Wortwitz sowie einer variantenreichen Mimik, die ihren eigenen Duolingo-Kurs haben könnte - ach du Specht, die gibt‘s ja echt!

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