Über 77 Jahre ist es her, dass Alfred Hitchcock mit "Cocktail für eine Leiche" die Grenzen der Filmkunst zu dehnen versuchte. Das in nur einer Wohnung angesiedelte Kammerspiel über einen makaberen Mord unter Freunden sollte den Eindruck erwecken, ohne Schnitte auszukommen. Da die Filmrollen für Limitierungen sorgten, war dies zwar nicht wie gewünscht umzusetzen, stattdessen behalf man sich einer Mischung aus harten und unsichtbaren Schnitten in elf Einstellungen, um die Montage möglichst gut zu verschleiern. Dadurch wurde zumindest der Anschein von nahtlosen Übergängen und eines damit ungeschnittenen Films erweckt. Die Story wiederum basiert auf dem Theaterstück "Party für eine Leiche" von Patrick Hamilton aus dem Jahr 1929, welches der Legende nach von einem wahren Mord inspiriert sein soll: Zwei Halbstarke töten einen 14-jährigen. Ein Mord im jungen Alter ohne Reue, die anschließende audiovisuelle Verpackung ohne Schnitt. Hallo, "Adolescence"?! Doch dazu gleich mehr. 

Auch wenn sein erster Farbfilm kein Erfolg an den Kinokassen war und der "Master of Suspense" seinen gewagten Versuch zwanzig Jahre später in den Bereich der Idiotie rückte, erlebt das Stilmittel immer wieder florierende Phasen. Aus deutscher Sicht nicht zu vergessen ist der Kinofilm "Victoria" von Sebastian Schipper vor zehn Jahren, der eine 140-minütige Energieleistung begleitete und damit selbst eine war. Sogar beim "Tatort" wollte man die Mittel austesten und schuf 2018 mit "Die Musik stirbt zuletzt" in Luzern eine Episode in Echtzeit. Im Serienbereich gibt es von "True Detective", über "Peaky Blinders", "Atlanta" oder "Mr. Robot" Episoden, die längere Plansequenzen haben oder damit spielen. Hervorzuheben ist in diesem Atemzug die siebte Folge der Auftaktstaffel von "The Bear", die einen ungeschnittenen, rund 20-minütigen Take lieferte und einen dadurch noch mehr in den Stress des Küchenchefs Carmy hinein zog. Im Comedy-Genre fällt unterdessen das bei den diesjährigen Primetime Emmy Awards mit Nominierungen überhäufte "The Studio" mit der Folge "Der One-Shot" - der Name ist Programm - auf. 

Nochmals ganz neue Maßstäbe setzt in diesem Jahr die Netflix-Serie "Adolescence" aus Großbritannien, deren ganzes Serien-Konzept auf dieser filmischen Erzählweise fußt: Vier One-Shots ergeben am Ende eine Mini-Serie mit insgesamt vier Folgen. In jeder einzelnen Folge wird auf Schnitt verzichtet, gedreht wurde in real-time mit Zeitsprüngen zwischen den Episoden. Die Kamera folgt ohne Unterlass den Handelnden wie der Stift eines Kindes den Punkten auf einem Zahlenbild, der durch Zusammenführung etwas Grafisches sichtbar werden lässt. Für die Zuschauenden entsteht ein Sog, eine Unmittelbarkeit, etwas, aus dem man so schnell nicht wieder heraus kommt, eine narrative Struktur mit Nähe zum Theaterstück. Und genau das ist es, was für das schauspielende Ensemble und die technische Crew zur Herausforderung wird: alles muss klappen, es gibt - wie beim Theater auch - keine Erlösung durch Schnitt. 

Neben dem ungewöhnlichen Erzählrhythmus ist aber auch das behandelte Thema eines, das so viele bewegte, dass Rekorde gebrochen wurden und sich sogar der britische Premierminister Keir Starmer in die Debatte einmischte. Dem 13-jährigen Jamie Miller wird vorgeworfen, Schülerin Katie getötet zu haben. Auf seine Verhaftung (Folge 1) folgen Nachforschungen an der Schule von Opfer und Täter (Folge 2). Besonders dicht erzählt ist Folge drei, die ein Verhör Jamies mit einer ein Gutachten zu erstellenden Psychologin in der U-Haft zeigt. Gefolgt vom Umgang der Working-Class-Familie mit ihrem Sohn als Mensch, der das Leben eines jungen Mädchens ausgelöscht hat (Folge 4). In der Erzählung wandert das "who did it?" verhältnismäßig schnell zum Warum: der Suche nach Gründen für die grausame Tat. Jamie verweigert eine ausführliche Antwort, die Puzzleteile ergeben jedoch Aufschluss. Mit dem Smartphone als Teil der Generation Alpha aufwachsend, spielen Cybermobbing, Frauenhass propagierende und antifeministische Netzwerke stabilisierende Männervorbilder wie beispielsweise Andrew Tate, eine Rolle für die Tat. Katie, das als Platzhalter fungierende Opfer, habe ihn nicht ernst genommen, vielleicht sogar gemobbt, für Jamie die Rechtfertigung seines Handelns, gestützt von der Zeitgeist-Strömung Incel (unfreiwillig sexuell enthaltsam), die eine Ideologie hegemonialer Männlichkeit propagiert und auch vor Gewalt als Mittel nicht zurückschreckt. 

Auch wenn es sich bei "Adolescence" um eine fiktive Serie handelt, haben sich die Macher Jack Thorne und Stephen Graham ("Snatch") von realen Mordfällen dieses Kontexts der jüngeren Vergangenheit beeinflussen lassen. Letzterer verkörpert zugleich die Rolle von Jamies Vater Eddie. Mit insgesamt acht Nominierungen führt die Serie aus Großbritannien das Feld der Miniserien und Anthologien an, wobei durch Doppelnominierungen in zwei Kategorien insgesamt sechs Preise möglich sind. Unwahrscheinlich, dass sich Newcomer der Stunde, Owen Cooper (Jamie), als zugleich jüngster Nominierter nicht gegen seine Mit-Nominierten Ashley Walters ("Adolescence"), Javier Bardem ("Monsters: The Lyle And Erik Menendez Story"), Bill Camp ("Aus Mangel an Beweisen"), Rob Delaney ("Dying For Sex") durchsetzen wird. Auch der für das Drehbuch, die Produktion und das Schauspiel dreifach nominierte Graham ist das erste Mal dabei und muss gegen Brian Tyree Henry ("Dope Thief"), Jake Gyllenhaal ("Aus Mangel an Beweisen"), Cooper Koch ("Monsters: The Lyle and Erik Menendez Story") und Colin Farrell ("The Penguin") in der Hauptkategorie ran. 

"Adolescence" ist in der Nacht vom 14. auf den 15. September natürlich keineswegs allein. Mit "The Penguin" (HBO/Max, bekam bei den Creative Arts Emmys bereits acht Preise), "Dying For Sex" (FX On Hulu), "Monsters: The Lyle And Erik Menendez Story" (Netflix) und "Black Mirror" (Netflix) versuchen vier weitere sehenswerte Produktionen an den Titel zu gelangen. Doch der Reihe nach: der oben genannte und bis zur Unkenntlichkeit "maskierte" Colin Farrell verkörpert im Spinoff "The Penguin" zum Film "The Batman" von Matt Reeves aus dem Jahr 2022 erneut die Rolle des Pinguins, mit bürgerlichem Namen Oswald "Oz" Cobb. Die nach den Ereignissen des Films ansetzende Serie geht am Abend der Verleihung mit sieben Nominierungen ins Rennen (möglich sind jedoch nur sechs Preise). Passend zur Unterwelt in dunklen, häufig verregneten Bildern, folgt man dem Aufstieg des Mannes mit angeborener Fußdeformation und einer Hautstruktur wie Fleischsalat. Angefangen als rechte Hand der Mafia-Familie Falcone, trickst Oz sich hoch in der Welt voller Gewalt, Drogen und der Macht des Härteren mit dem Ziel, Gotham zu dominieren. "Er hat keinen Kodex, keine Klasse. Der Pinguin ist nichts weiter als ein Opportunist", heißt es über den Fahrer des Pflaumen farbenen Maserati mit Ödipuskomplex und unliebsamen Spitznamen. Nicht nur, dass es sich bei den acht Folgen, nicht um eine Geschichte mit Superhelden handelt, wie eigentlich zu vermuten wäre, im Gegensatz zum klassischen Gangstergenre mit "Scarface", der "Pate"-Reihe oder den "Sopranos" ist mit Sofia Falcone (Cristin Milioti) ein weiblicher Gegenpart ziemlich prominent in die Serie von Lauren LeFranc geschrieben, die nebenbei bemerkt auch quasi ganz ohne Batman auskommt.

Diese Performance goutiert die Academy zudem mit einer Nominierung für die beste schauspielerische Leistung. Mit Milioti auf dem Nominierungszettel bei den Hauptrollen stehen Cate Blanchett ("Disclaimer"), Meghann Fahy ("Sirens"), Rashida Jones ("Black Mirror") und Michelle Williams ("Dying For Sex"). Das bringt uns zum Format mit den drittmeisten Nominierungen für den Abend. Möglich sind dann sechs von sechs Preisen für "Dying For Sex". Wo bei “Adolescence” das Opfer und seine Persönlichkeit keinen Raum bekommt (vielfach ein Kritikpunkt an der Serie), aber singulär bleibt, hat "The Penguin" einen body count, wie man ihn im Gangsterumfeld erwartet. Bei dem auf einer wahren Geschichte basierenden "Dying For Sex" mit einer grandiosen Michelle Williams in der Rolle der krebskranken Molly im Endstadium, steht das Sterben nicht wie bei "Adolescence" am Anfang der Serie, sondern am Ende (auch wenn es natürlich ständiger Begleiter ist), nachdem man mit dem Charakter Höhen in den Tiefen durchlitt. Der Blick auf das nahende Lebensende einer deutlich zu jungen Frau ist ein schmerzhafter, wie humorvoller. 

Molly Kochan und ihre Freundin Nikki Boyer arbeiteten das Schicksal in einem preisgekrönten Podcast auf, der 2020 posthum erschien. Fünf Jahre später gibt es nun also eine acht Folgen umfassende, gleichnamige Dramedy von Elizabeth Meriwether ("New Girl"), die sich an den Ereignissen orientiert. Obwohl (oder gerade weil) der Brustkrebs unheilbar zurückkehrt, trennt sich Molly (Williams) von ihrem Ehemann. Zu sehr fühlt sie sich von ihm bevatert und eigentlich möchte sie doch nur noch ihren ersten richtigen Orgasmus erleben. Wissend, dass ihre Zeit abläuft, stürzt sich die lebendige, lebensbejahende und selten um Aufheiterung verlegene Protagonistin in bester “Girls”-, “Fleabag”- oder “Insecure”-Manier in seuxelle Abenteuer. Abseitige Spielarten inklusive. Getragen und unterstützt in ihrer Selbstfindung wird sie von Freundin Nikki und so entsteht nicht nur eine emotionale, wie weibliche Serie über Lust und das Sterben, sondern auch eine über Freundschaft zwischen zwei Frauen. 

Hoffen kann auch Jenny Slate (Nikki) auf eine Emmy-Trophäe, und zwar in der Kategorie der besten Nebendarstellerinnen. Dort bekommt sie es mit Erin Doherty und Christine Tremarco ("Adolescence"), Ruth Negga ("Aus Mangel an Beweisen"), Deirdre O’Connell ("The Penguin"), sowie Chloë Sevigny ("Monsters: The Lyle And Erik Menendez Story") zu tun. Sevignys Nominierung ist eine von insgesamt vier für die Nachfolgestaffel zu "Jeffrey Dahmer", beziehungsweise der "Monster"-Anthologie. Die Auftaktstaffel aus dem Hause Netflix hatte damals das Nachsehen gegen "Beef", ebenfalls vom Streamer in rot. "Monsters: The Lyle And Erik Menendez Story" von Ryan Murphy und Ian Brennan ist True-Crime und behandelt den Mord der im Titel genannten Brüder an ihren Eltern José und Kitty im heimischen Wohnzimmer in Beverly Hills im Jahr 1989. Die Serie geht auf die Suche nach der Wahrheit und liefert unterschiedliche Perspektiven. Wer waren eigentlich wirklich die Monster: die Kinder oder die Eltern? Und waren die Täter nicht eher aus Notwehr handelnde Opfer? Mit einem ausschweifenden Lebensstil machte sich das Brüderpaar verdächtig, denn laut Staatsanwaltschaft töteten sie aus Habgier, um an das Vermögen der Eltern zu kommen. Die Brüder wiederum begründeten den Doppelmord aufgrund physischer und psychischer Gewalt des tyrannischen Vaters und einer dies duldenden Mutter. Und wie bei "Adolescence" vermochte es auch diese Netflix-Miniserie (plus Doku), dass - getragen von der Medienöffentlichkeit - Bewegung in die Realität kam. Seit 35 Jahren in Haft, gab es kürzlich Anhörungen mit dem Ziel zur Haftentlassung unter Auflagen für die Brüder, was jedoch scheiterte.

Und dann wäre da noch eine dritte Netflix-Produktion, die das nominierte Quintett mit insgesamt drei Nominierungen komplett macht. Hierbei handelt es sich ebenfalls um eine Anthologie und zwar um eine mit langer Tradition. 2011 auf der Insel bei Channel 4 begann die Geschichte von "Black Mirror", bis dann ab der dritten Staffel Netflix übernahm. Nachdem sich Staffel 5 und 6 von Charlie Brooker dem Vorwurf ausgesetzt sahen, sich zu sehr vom Markenkern entfernt zu haben, steht nach einer zweijährigen Pause Staffel 7 zum Abruf, die mit der letzten Folge Bezug zum prämierten Fernsehfilm "USS Callister" der vierten Staffel nimmt und damit wohl an bessere Zeiten anknüpfen möchte. Und auch bei der aktuellen Staffel gilt das Label Anthologie wieder im doppelten Sinne: jede Folge hat eine eigene Geschichte mit eigenem schauspielenden Personal. Wieder werden mal mehr mal weniger dystopische Science-Fiction-Geschichten mit der hintergründigen Frage "Beherrscht der Mensch die Technik oder die Technik den Mensch?" skizziert. KI, VR, Social Media, Kontrollsysteme, oftmals auf einer pessimistischen Note endend. 

Schwer vorstellbar, dass das Pfund von "Adolescence" bei den 77. Primetime-Emmy-Awards nicht so schwer wiegt, dass der Sieg an einen "Außenseiter" geht - und das obwohl "The Penguin" im Gesamtranking mit 24 Nominierungen eigentlich überragte und nur das Nachsehen hinter "Severance" hatte. Doch dabei muss man berücksichtigen, dass diese große Zahl auch durch die völlig berechtigte Berücksichtigung bei den Werkskategorien zusammen kam. Schließlich konnte der gewichtige Preis für das beste Casting am letzten Wochenende bereits auf die Insel exportiert werden, was wiederum für "Adolescence" spricht. Die technische Raffinesse ohne Verlust des Blicks auf die Geschichte, Kamerawege, die vorab minutiös geprobt wurden (auch der vielfach gelobte Kameraübergang von Hand zu Drohne), eine dichte Erzählung mit aktueller Relevanz, Choreografien, die einstudiert werden mussten mit einer Herangehensweise, die ans Theater erinnert. Schon Hitchcock bestritt mit seinem Film theaterähnliche Proben vorab - "Adolescence" macht Jahrzehnte später ausdifferenzierte Inszenierungskunst mit einer ganzen Serie und über 220 Minuten. Oder ist gerade der Hype ein Hindernis, weil man mit der Entscheidung zu vorhersehbar und gefällig wirken könnte? Bei einem Sieg würde sich nach "Rentierbaby" jedenfalls erneut eine aus UK stammende Geschichte in dieser Kategorie durchsetzen. Und beide kämen von Netflix. Nimmt man noch "Beef" bei der 75. Gala hinzu, könnte man fast schon von einem Netflix-Abo in dieser Kategorie sprechen.

Die Verleihung der Emmys ist aufgrund der Zeitverschiebung hierzulande zu nächtlicher Stunde zu sehen. MagentaTV überträgt die Verleihung in der Nacht vom 15. auf den 16. September. Gesehen werden kann die Gala auch ohne Login über den Sender dabeiTV auf magenta.tv.