Skeptiker wenden ein, der Zuschauer wolle sich doch gar nicht so weit nach vorne lehnen. Das mag sein. Dennoch geht es jetzt erstmal darum, auszuloten, was überhaupt geht: Technisch, erzählerisch und in Sachen Social Media. Ob es dann am Ende etwas wird, bei dem die Fernsehausstrahlung nicht ohne die Internetbegleitung kann – oder doch "nur" ein Angebot wie bei der Serie "Lost", steht jetzt noch nicht im Vordergrund. Bei „Lost“ boten die Webisodes zwischen den Staffeln interessante Zusatzelemente, waren jedoch für ein verstehen der Serie (sofern das bei diesem Format überhaupt möglich ist) nicht notwendig.

Es geht nicht darum, zwingend alles über alle Plattformen zu erzählen, einfach nur weil es geht. Allerdings geht es jetzt darum, neue Formen zu finden, sich den Bedingungen der Gegenwart zu stellen. Und dazu gehört nun einmal auch, dass die Zuschauer anders fernsehen, als noch vor zwanzig Jahren.

US-Autor Frank Rose hat dazu ein sensationelles Buch geschrieben. Es heißt "The Art of Immersion". Darin spricht Rose mit all denen, die in den vergangenen Jahren von sich reden machten, indem sie die neuen Möglichkeiten für bahnbrechende Erzählinhalte ausgetestet haben – von den frühen 80ern bis hin zu "Avatar", "Lost" und "Mad Men".

Medienwissenschaftler Franz Josef Röll aus Darmstadt ist der Überzeugung, dass das Medium Fernsehen große Teile seiner bisherigen Funktion für die Zuschauer an andere Medien abgeben muss. Fernsehen sei nur noch "ein sensorisches Element" sagte er während der Marler Tage der Medienkultur, die sich im vergangenen Dezember intensiv mit dem neuen Erzählen befasst haben.

Im Klartext heißt das: Es ist nicht viel mehr als ein akustischer oder optischer Reiz. Das Emotionale hat sich Röll zufolge längst in Netz verlagert – in Chats und Foren, in soziale Interaktionen. Sein Forderung: Neue Inhalte sollen die Zuschauer in ihren Erlebniswelten erreichen und auf die Fernsehstoffe verweisen. Ein bis zwei Prozent des Potentials sieht er in Deutschland bereits realisiert. Wie so etwas in der Praxis aussehen kann, zeigt zum Beispiel RTL II, die ihre Scripted Reality "Berlin Tag & Nacht" auf Facebook verlängern und mit diesen Web-Miniaturen mehr als 1,6 Millionen Menschen erreichen.

Die Historie zeigt, dass jedes neue Medium – vom Theater über das Kino bis zum Fernsehen ein bis zwei Jahrzehnte braucht, um eine eigene Ästhetik, ein eigenes Storytelling zu entwickeln. Bis dahin bildet man das Alte im Neuen ab. Man bringt zum Beispiel das Lustspiel von der Bühne ins Fernsehen – Ohnsorg-Theater lässt grüßen. Und jetzt ist nun der Punkt erreicht, an dem die Sender ihre TV-Inhalte weitestgehend ins Netz gebracht haben. Die Vorarbeiten sind erledigt. Jetzt kann es erst richtig losgehen, jetzt kann sich die neue Infrastruktur namens Internet emanzipieren und ihre ganz eigene Erzählästhetik finden.

Mike Pohjola, der Macher von "The truth about Marika", sieht darin übrigens eine Wiederbelebung der antiken Erzähltradition, in der auf der Bühne stets ein großer Chor zu finden war, der mit dem Gott zürnte. Nicht das gesamte Publikum, aber doch einige, waren darin mit der Handlung verbunden. Irgendwann im Mittelalter verschwand der Chor und es gab nur noch die glotzenden Zuschauer. Doch anstatt Menschen dabei zu beobachten wie sie mit ihrem Gott zürnen, sei es doch weitaus besser, selbst im Chor zu zürnen.