Durch den Anstieg der Produktionen hat die Fernsehpreis-Jury vor allem in der Fiction in den letzten Jahren immer mehr zu tun bekommen. Hat sich angesichts des wirtschaftlichen Drucks, unter dem die Branche steht, das Feld dieses Jahr etwas gelichtet?

Ich hatte nicht das Gefühl. Wir erwarten zwar, dass es wegen der wirtschaftlichen Umstände irgendwann einen Produktionsknick geben müsste, aber wir hatten weiterhin unheimlich viel Material zu sichten. Ich beobachte etwas anderes, das auch eine Folge der veränderten Rahmenbedingungen sein könnte: Wenn die Sender und Plattformen heute Geld in die Hand nehmen, dann gehen sie damit gründlicher um und wollen außergewöhnliche Stoffe machen. Die Erzählweisen sind dadurch interessanter geworden, was auch nochmal mehr Arbeit für die Jury bedeutet, schließlich wollen wir diese Produktionen in ihrer ganzen Tiefe und Breite wertschätzen.

Bei den Dramaserien sind zwei der drei Serien Anthologieserien mit abgeschlossenen Episoden. Vermissen sie trotz der großen Serienzahl Stoffe, die auch mal über einen längeren Bogen, ja auch mehrere Staffeln, erzählt werden können?

Es gab ja beides, da vermisse ich gar nichts. Ich empfand die Anthologien als großartige Ergänzung und eine Bereicherung unserer Gedankenwelt über Stofferzählung. Nehmen Sie „Uncivilized“: Die Serie kann ihren Auftrag, das Thema Alltagsrassismus und Migration zu beleuchten, viel besser erledigen, indem sie eine Kunstform dafür wählt. Eine fiktive Serie mit ein paar Figuren wäre da total einschränkend. Es ist ein Thema, das nicht auf eine Familie oder einen Freundeskreis begrenzt ist, sondern das in einer Gesellschaft passiert, die sehr vielschichtig ist. Das lässt sich mit einer Anthologie viel besser erzählen.

Im letzten Jahr haben Sie an dieser Stelle Ihre Sorge um den Fernsehfilm geäußert. Wenn man sich anschaut, dass eine der drei Nominierungen diesmal sogar ein Mehrteiler ist, muss man sagen: Die Lage ist nicht besser geworden, oder?

Als Schauspielerin kann ich sagen: Wir reden leider kaum noch über Einzelstücke. Aber die Einzelstücke, die wir gesichtet haben, waren sehr stark – und sie haben sich alle konzentriert über 90 oder 100 Minuten sehr ernsten Fragen gewidmet. Dieses Format hat weiter seinen Platz, weil es den Stoff so ernst nimmt. Wenn sie es dann noch schaffen, eine ganz eigene Bildsprache zu entwickeln, dann sind Einzelstücke besonders stark und unvergesslich. Gerade wenn man so viel schaut wie wir in der Jury: Die Filme mit eigener Bildsprache, die ich in den letzten Jahren gesehen habe, bleiben im Kopf. Daran haben viele ihren Anteil, natürlich Kamera, aber auch Konzeption, Dramaturgie, Regie. Da kann Großes entstehen.

Sie sprechen es schon an: Als Jury-Mitglied haben Sie die deutsche Fiction in den letzten Jahren intensiver verfolgt als die meisten von uns. War es denn aus Ihrer Sicht ein gutes Fiction-Jahr?

Es waren alles gute Jahre. Ich habe Respekt davor, weil ich weiß, wie aufwendig und komplex es ist, Filme und Serien zu machen. Die ganze bildliche Gestaltung der Welt hat sich ja total verändert, wir stehen in Konkurrenz zu YouTube-Clips und Handy-Videos, die jeder drehen kann. In dieser Welt finde ich fiktionale Arbeit fürs Fernsehen grundsätzlich respektabel und würde nie etwas anderes darüber sagen. Ich weiß, wieviel Arbeit darin steckt, wieviele Leute da mitarbeiten. Mich freut und erfüllt das. Ich bin begeistert, wenn ich sehe, was alles produziert und an Neuem und Unerwartetem versucht wird. Das hilft mir, den enormen Workload, den diese Jury-Arbeit mit sich bringt, zu bewältigen.

Da ist es schon fast ein bisschen tragisch, dass viele Leute immer noch sagen: „Deutsche Serien oder deutsche Filme schaue ich nicht.“ Viele der nominierten Serien haben ja auch tatsächlich bislang kein so großes Publikum gefunden. Haben wir eher ein Marketing- als ein Angebotsproblem?

Auf die Haltung „Deutsche Serien schaue ich nicht“ stößt man manchmal. Ich finde das total borniert. Aber für unser Metier gilt eben: Es ist Geschmack, das muss man aushalten. Wir haben kein Recht darauf, dass die Leute sich für deutsche Formate interessieren. Doch wer sich anschaut, was in Deutschland in der Fiktion, der Unterhaltung oder vor allem auch in der Information produziert wird, der stellt fest: Wir sind wirklich gut darin, uns vielschichtig mit der Welt auseinanderzusetzen, da müssen wir uns vor niemandem verstecken. Wenn man sich anschaut, was alles gemacht und versucht und produziert wird: Das ist so vielseitig, da kann sich jeder wiederfinden.

Hinter vielen der nominierten Produktionen stecken ganz junge Teams, etwa in der Comedy, aber auch im Dramaserien-Bereich. Sind es also gerade trotz der schwieriger gewordenen Rahmenbedingungen gute Zeiten für den Nachwuchs?

Es kann auch daran liegen, dass ich unaufhörlich älter werde, aber schon wenn ich mich am Set umschaue, habe ich das Gefühl, dass es viel mehr junge Leute gibt. Das ist auch wahnsinnig wichtig, weil sie teilweise ein anderes Verständnis für Dinge mitbringen als die ältere Generation. Schauen Sie sich an, was in den letzten Jahren die Kleinen Brüder gemacht haben. Das sind völlig neue Schnitte, man versteht als älterer Mensch erstmal das Tempo gar nicht. Da ist eine ganz andere Dramaturgie, da gibt’s kein Drehbuch. Wir brauchen diese Leute, um frischen Wind reinzubringen und nicht stehenzubleiben. Was wir allerdings nach wie vor nicht haben ist die Geschlechterparität, die wir uns wünschen. Das liegt nicht an der Jury, die die Sachen nicht auswählt, das ist nach wie vor die Auftragslage, die das nicht hergibt. Die Aufträge werden leider noch immer nicht gleichermaßen verteilt.

Frau Niehaus, vielen Dank für das Gespräch.