Manchmal hilft es ja, wenn man sich Expertise von einem ganz anderen Planeten holt. Es hilft besonders, wenn die Ahnungslosigkeit der dort Lebenden direkt korreliert mit ihrer übersteigerten Behauptungskraft. Aus der Reibung der Welten kann dann über den Umweg einiger aufgeworfener Fragen leicht mal so etwas wie ungeahnte Erkenntnis entstehen.

Am Mittwoch war das wieder mal der Fall. Da las ich bei "Spiegel Online" einen Bericht über den Böhmermann-Prozess, der gerade vor dem Landgericht Hamburg verhandelt wird. Dort auf dem Planeten Jurisprudenz ging es um die Frage, wie denn das bekannte Schmähgedicht zu bewerten sei. Naturgemäß flogen die Fetzen zwischen Böhmermanns Rechtsbeistand Christian Schertz und Michael-Hubertus von Sprenger, dem Anwalt des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Es ging darum, ob das Gedicht nun eine Menschenrechtsverletzung darstellt oder nicht. Alles erwartbar. Gestolpert bin ich allerdings über eine Protokollnotiz der wackeren "Spiegel Online"-Reporter. Die zitierten indirekt den Erdogan-Anwalt mit einer interessanten Aussage. "Ein weiteres Problem: die späte Sendezeit des 'Neo Magazin Royale'. Die Zuschauer seien deshalb möglicherweise zu müde, um noch zwischen Satire und Wirklichkeit differenzieren zu können."

Ich nehme einfach mal an, dass die Spiegel-Leute da korrekt zitiert haben und übersetze das prompt in eine flotte Behauptung: Der Zuschauer als solcher ist nach 22.30 Uhr zu müde, um noch zwischen Satire und Wirklichkeit differenzieren zu können.

Ist das ein Hammer? Yes it is. Ich gehe aufgrund meiner Erfahrung mit Anwälten davon aus, dass Michael-Hubertus von Sprenger nicht der allergrößte Fernsehfan ist, dass er sich vor allem in den Abgründen jenseits von Tagesthemen, Talkshows und "Tatort" nicht sonderlich gut auskennt. Trotzdem ist seine Aussage von Belang, denn sie wurde ja vor einem ehrwürdigen deutschen Gericht vorgetragen. Im Namen eines Staatspräsidenten, und im Namen eines Staatspräsidenten redet man ja nicht irgendwas daher. Man will ja was erreichen.

Nehmen wir Sprengers These mal als gesetzt an. Dann könnte man aus ihr einschneidende Rückschlüsse fürs späte Fernsehprogramm ziehen. Im Prinzip könnte man behaupten, dass es völlig wurscht ist, was nach 22.30 Uhr läuft, weil dann die Zuschauer eh schon weich in der Birne sind.

Urplötzlich ergeben dann viele Angebote in der Spätleiste neuen Sinn und nähren den Verdacht, dass man in den Anstalten schon länger nach Sprengers Annahmen programmiert. Maischberger, Lanz, "Das Wort zum Sonntag"? Alles komplett auf gaga getrimmt. Absichtlich. "Titel, Thesen, Temperamente" oder "ZDF-History"? Völlig egal. Nach Sprengers Annahmen könnten alle Sender ab 22.30 Uhr das frühere Programm von 9Live wiederholen, es würde nichts ausmachen, weil alle Kanäle nur noch in von der Tagesfron zermürbte Gehirne münden.

Jetzt mal schnell alle aufstehen, die das lineare Fernsehen lieber heute als morgen tot sähen. Ja, es sind einige. Vor allem Journalisten mit Netflix-Abo, die aus ihrem eigenen Verhalten und dem ihrer Umgebung kurzerhand auf die gesamte Nation schließen und folgern, dass das Fernsehen so wie wir es kennen, in Windeseile den Bach runtergeht.

Zu ihrem Leidwesen tut es das aber nicht. Es behauptet sich erstaunlich zäh auf seiner Position. Das muss natürlich nichts heißen. Die Dinosaurier sind damals auch nicht direkt am Tag nach dem Meteoriteneinschlag eingegangen. Sie sind langsam dahingesiecht, und nirgends war ein Netflix in Sicht, das sie hätte retten können.

Es wird noch eine ziemlich lange Zeit vergehen, bis das deutsche Fernsehen, bis auch die deutsche Politik erkannt hat, wo die Zukunft liegt. Beim ZDF hat man da schon erste Schritte unternommen und verkauft die Mediathek nun quasi als hip. Man zeigt in einem schönen Clip, was passieren würde, wenn ein Supermarkt funktionierte wie das herkömmliche Fernsehen. Dann gäbe es Oliven nur donnerstags um 16 Uhr, gleich nach der Milch. "Alles zu deiner Zeit", heißt es da im Clip, und sehr offenbar blenden die Macher sehr bewusst aus, dass sie mit dieser Werbung im Umkehrschluss ihr Hauptprogramm als schrottreif deklarieren.

Immerhin vermittelt der Clip, dass auch beim ZDF die Einsicht angekommen ist, dass sich die Zeiten bewegen. Nun wissen wir, dass neue Einsichten noch nicht gleich die Umstände in behördengleichen Apparaten ins Wanken bringen. Da können sich die Zeiten ändern wie sie wollen. Aber man kann zumindest sagen, dass gesät wurde. Was aus den Keimen wann sprießt, muss sich zeigen.

Man kann übrigens auch noch ganz andere Schlüsse aus Sprengers Worten ziehen. Wenn nämlich wurscht ist, was nach 22.30 Uhr gesendet wird, dann könnte man doch statt der Übernahme des 9Live-Archivs auch einfach mal anspruchsvolle Sachen senden. Für Menschen, die nach 22.30 Uhr noch im Vollbesitz ihrer Kräfte sind.

Jene, die nach Sprengers Worten zu müde sind, um zwischen Satire und Wirklichkeit zu unterscheiden, kann man eh nicht mehr verschrecken. Die schlucken alles. Zur Not auch Qualität.

An der könnten dann auch jene partizipieren, die sich bislang dem linearen Fernsehen verweigert haben. Wenn die wüssten, dass nach 22.30 Uhr was für sie kommt, bräuchte es auch keine Digitalableger mehr. Man wüsste: Bis 22.30 Uhr kommt das Gefällige, und danach läuft nur noch Gutes. Es würde quasi eine neue Linearität eröffnet. Für die Übergangszeit bis zur Umstellung auf die Selbstbedienung zu jeder Zeit.

Schluss wäre dann auch mit dem Gejammer, dass diese oder jene Doku nur zu später Stunde zu sehen ist. Ja, ist sie. Aber Menschen mit einem IQ über Kartoffelsalat wissen, wie man Dinge bekommt, die interessant und packend sind. Die können Festplatten bedienen und Mediatheken erforschen. Und um es mal ganz deutlich zu sagen: Nicht jede Doku ist von Qualität, nur weil sie eine Doku ist.

Man könnte sich daraus eine Formel backen: Je intelligenter das Programm, desto intelligenter das Publikum, desto wurschter der Sendeplatz. Für clevere Menschen ist das lineare Programm längst Geschichte. Für die anderen 79 Millionen dauert es halt noch was.

Möglicherweise wird man sich ja eines schönen Tages an Michael-Hubertus von Sprenger gar nicht mehr als Anwalt von Erdogan erinnern, sondern als jenen Mann, der den Keim legte für die Revolution des deutschen Fernsehens. Sprenger, der Initiator der Offensive "Qualität nach 22.30 Uhr".